Buch mit Biss
Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ sollte die politische Ideologie und die Dichtung des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderes Werk beeinflussen. Als es 1883 und 1884 erstmals im Chemnitzer Verlag E. Schmeitzner erschien und sein Dasein zunächst als Ladenhüter fristete, ahnte dies bis auf den überzeugten Verfasser jedoch kaum jemand: Die ersten drei Bände des „Zarathustra“ verkauften sich gerade einmal in 60 bis 70 Exemplaren. Friedrich Nietzsches (1844–1900) aufwühlendes philosophisches Traktat über den Übermenschen Zarathustra stieß auf Unverständnis – selbst bei seinen ihm sonst gewogenen Lesern.
Für den vierten und letzten Teil, den Nietzsche als noch radikaler empfand als die drei zuvor veröffentlichten, entschied sich der Autor 1885 schließlich, das Manuskript lediglich als Privatdruck in Kleinstauflage zu vervielfältigen. Ergänzt durch den Hinweis „Für meine Freunde und nicht für die Öffentlichkeit“ – und teilweise mit handschriftlichen Widmungen wie „Ein verbotenes Buch, Vorsicht es beißt!“ versehen –, verteilte der Philosoph die wenigen Exemplare unter penibler Geheimhaltung in seinem Umfeld. Selbst den Drucker verpflichtete er, alle weiteren Materialien zu vernichten und die Vorlage sowie die Probedrucke zurückzuschicken. Nur bei einer Handvoll der persönlich gewidmeten und höchst diskret verschenkten Drucke des vierten Teils ist der Verbleib heute nachvollziehbar. Schon deshalb handelt es sich bei dem jüngst von der Klassik Stiftung Weimar erworbenen Handexemplar des – unter dem Pseudonym Peter Gast tätigen – Komponisten und Schriftstellers Heinrich Köselitz (1854–1918) um ein spektakulär rares Zeugnis. Seine einzigartige Bedeutung aber gewinnt der in grünes Maroquinleder geschlagene Druck durch ein beiliegendes Blatt mit bislang unbekannten eigenhändigen Korrekturen Friedrich Nietzsches an seinem eigenen Werk. Die fahrig mit Bleistift auf dem bläulichen Quartblatt niedergeschriebenen Veränderungen des Autors übernahm Peter Gast – zuletzt als eine Art Sekretär des großen Philosophen tätig und zuständig für dessen Druckmanuskripte – fast vollständig als Annotationen in sein privates Handexemplar. Dazu gehören kleinere Eingriffe Nietzsches – die ursprüngliche Formulierung „helle heile Bosheit“ gefiel dem Verfasser als „helle heile heilige Bosheit“ besser –, aber auch umfänglichere Textveränderungen: Nietzsche entwarf in sechs Zeilen mit diversen Korrekturen eine Erweiterung des Kapitels „Das Honig-Opfer“, die er auf demselben Dokument in weiteren sechs Zeilen modifiziert erneut abschrieb. Diese letzte Fassung übertrug Peter Gast korrekt in sein Arbeitsexemplar, in die erste öffentliche Ausgabe des vierten „Zarathustra“-Teils von 1892 gingen die Veränderungen dennoch nicht ein und auch in der Folgezeit gelangten die von Nietzsche und seinem Vertrauten Gast erarbeiteten Korrekturen in keine der Editionen des Werks. Der Nietzsche-Autograph und die textlichen Anpassungen in Gasts Arbeitsexemplar sind der Forschung um den „Zarathustra“ bis dato also unbekannt gewesen. Das Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv beheimatet neben sämtlichen Vorarbeiten – von der ersten Skizze bis zur Reinschrift – des vierten Teils von „Also sprach Zarathustra“ in Nietzsches Nachlass auch den Nachlass von Heinrich Köselitz alias Peter Gast. Das nun mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien erworbene kostbare Ensemble aus Peter Gasts korrigiertem Handexemplar und dem beiliegenden originalen Manuskriptblatt Friedrich Nietzsches stellt daher eine glückliche und wichtige Ergänzung für die Nachlässe von Friedrich Nietzsche und Peter Gast dar und bereichert das Archiv um weitere Werkzeugnisse des bedeutenden Denkers.