Blinde Flecken?

Liebe Leserinnen und Leser,

selten ist es mir so schwergefallen, einen passenden Einstieg in das Editorial von Arsprototo zu finden: „Heimaten“ – dieser dekonstruktivistische Plural! Als ob es nicht schon schwer genug wäre, über das Wort „Heimat“ im Singular zu schreiben! Wenige andere Begriffe im Deutschen sind so aufgeladen, so schillernd und zugleich so existenziell im ursprünglichen Wortsinn. Existenziell deswegen, weil jeder Mensch auf die Frage, was für sie oder ihn Heimat bedeutet, in der Regel eine Antwort geben kann: ein Ort, ein anderer Mensch oder andere Menschen, ein Geruch vielleicht, eine Landschaft, ein Gedicht. Existenziell aber auch in dem Sinne, dass man es sofort intuitiv spürt, wenn man eine oder die Heimat verloren hat, wenn man heimat-los geworden ist. Viel zu viele Menschen haben diese Erfahrung gemacht und machen sie noch. Mit Schaudern und Traurigkeit denke ich an die unzähligen Kinder, die Alten, die Schwachen und Kranken sowie die Frauen und Männer überall auf der Welt, die in diesen Tagen oft wieder bei erbarmungsloser Kälte in seelen­losen Lagern ausharren, in der Hoffnung darauf, dass man ihnen die Chance auf eine neue Heimat zubilligt.

Als die Kulturstiftung der Länder gegründet wurde, ging es – selbstredend nur implizit – auch um eine Heimat, diejenige Heimat nämlich, die sich in Werken von Kunst und Kultur ausdrückt. Natürlich nicht irgendwelche Werke, sondern solche, an denen sich Geschichten erzählen lassen. Natürlich nicht irgend­welche Geschichten, sondern solche, die in all ihrer Vielfalt stellvertretend stehen können etwa für eine Region, eine Generation, eine Tradition oder eine Revolution. Beim Durchblättern der Korrekturfahnen für das vorliegende Heft gab es denn auch diesen einen Moment, in dem mir klar wurde, dass ich auf die Frage nach meiner eigenen Heimat auch mit dieser Ausgabe von Arsprototo antworten könnte: Amalia Augusta vor dem Weihnachtsbaum (S. 9), die Rezepte, Weinetiketten und Menükarten aus der Sammlung Birsner (S. 14), Schloss Erbach (S. 48), die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (S. 40) und natürlich Biermann und Beuys (S. 20 bzw. S. 58). Gerade an Person und Werk Wolf Biermanns lässt sich die gesamtdeutsche Geschichte der letzten acht Jahrzehnte mit außer­ordentlicher Facettenvielfalt und Detailschärfe nacherzählen: Wenn ich an ‚meine‘ Heimat denke, dann kommen darin auch immer Wolf Biermann und seine Lieder vor.

Zugleich nagt an mir immer dieselbe Frage: Ist das alles? Wo sind unsere blinden Flecken? Was wollen wir nicht sehen? Wer „Heimat“ kulturell definiert – und das Wort dazu noch im Plural verwendet –, muss auch das Wagnis eingehen, möglichst die gesamte Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen darin zu integrieren. Andernfalls kann das Wort „Heimat“ schnell zu einem begrifflichen Instrument der Abgrenzung oder Diskriminierung werden.

Sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, bei der Lektüre dieses Heftes einige dieser blinden Flecken entdecken, sind wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns darauf aufmerksam machen! Vor allem aber wünschen wir Ihnen zum Jahresausklang eine friedvolle und frohe Zeit, dort, wo für Sie Heimat ist.

Ihr Markus Hilgert