Bischofs Bozzetto

Das Werk, das jüngst mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder vom Kaiser Friedrich-Museums-Verein für die Skulpturensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin erworben werden konnte, ist ein Tonmodell von 66 cm Höhe. Es zeigt – in stupender Qualität der Formgebung – den genuesischen Aristokraten und Bischof Alessandro Sauli (1534 –1591), den Generaloberen der 1534 in Mailand gegründeten Regularkleriker vom Hl. Paulus der Barnabiten, den Bischof und Reorganisator des kirchlichen Lebens der Insel Korsika, die zur Republik Genua gehörte, und späteren Bischof von Pavia, den Freund Carlo Borromeos. Er ist liturgisch gewandet in Alba, Pluviale und Mitra. Das Buch zu seinen Füßen deutet auf seine Tätigkeit als „Apostel Korsikas“, der Geld-Krug mit den rinnenden Münzen auf seine Freigebigkeit hin. Sein Insigne, den nur halb ausgeführten Bischofsstab, hält auffallenderweise nicht er, sondern ein Engel-Putto. Die Figur rafft mit der linken Hand das Pluviale. Körperhaltung, Gestik und Mimik – die drei klassischen Mittel, die „Bewegungen der Seele“ durch die Bewegungen des Körpers sichtbar werden zu lassen – sind nach oben gewendet.

Pierre Puget, Bozzetto für seine Kolossalstatue des Heiligen Alessandro Sauli, 1663/64, Höhe 66 cm; Bode-Museum, Staatliche Museen zu Berlin
Pierre Puget, Bozzetto für seine Kolossalstatue des Heiligen Alessandro Sauli, 1663/64, Höhe 66 cm; Bode-Museum, Staatliche Museen zu Berlin

Probleme der Zuschreibung stellen sich nicht. Das Werk stammt mit Sicherheit von Pierre Puget, geboren 1620 in Marseille und dort 1694 gestorben, dem größten Bildhauer Frankreichs im siebzehnten Jahrhundert. Allein, der Ort seiner Entstehung ist Genua, das Werk Bestandteil der französischen ebenso wie der italienischen Skulptur, die Voraussetzung seiner Entstehung zugleich ein frappantes Beispiel eines historischen Wechselverhältnisses: Städte und Hafenstädte des europäischen Teils des westlichen Mittelmeers als zusammenhängender Kulturraum der frühen Neuzeit! Puget, im Winter 1660 von dem surintendant des finances Ludwigs XIV., Nicolas Fouquet, wegen der Nähe zu den Marmorsteinbrüchen von Carrara nach Genua entsandt, um für ihn zu arbeiten, war dort von dessen „Ungnade“, das heißt, seiner Verhaftung am 5. September 1661, überrascht worden und deshalb frei für die Annahme von Aufträgen der genuesischen Nobilität. Auftraggeber, Adressat und erstes Publikum des Tonmodells ist die Familie Sauli, vertreten durch Giulio Sauli, Doge der Republik Genua 1656 – 58, und Giovanni Maria Sauli, künftiger Doge der Jahre 1697– 99.

Das Modell diente der Vorbereitung einer der vier monumentalen Heiligenstatuen aus Carrara-Marmor im Kuppelraum von S. Maria Assunta di Carig­nano, der Familienkirche der Sauli, die Bendinello Sauli, Großkaufmann und Begründer ihres Reichtums, 1481 gestiftet und Galeazzo Alessi seit 1549 erbaut hatte: ein überkuppelter Zentralbau nach dem Vorbild St. Peters in Rom, errichtet in hinreißender Lage auf dem der Altstadt Genuas ebenso wie dem Meer zugewandten Hügel von Carignano und eines der Wunder der Architektur Italiens. Die verheerende Pestepidemie des Jahres 1656/1657, während der Girolamo Sauli Doge gewesen war, hatte den Anlass geboten, sie verstärkt mit dem religiösen, sozialen und politischen Leben der Stadt zu verbinden und im Inneren zu vollenden. So wie die Gestalt des Baues folgen auch die seit 1663 ins Werk gesetzten Ausstattungspläne, für die man Pierre Puget gewonnen hatte, St. Peter in Rom: hier wie dort vier Statuen in den Nischen der Pfeiler des Kuppelraums! Sie sollten einen gewaltigen Altaraufbau mit gewundenen Säulen umstehen, bekrönt von einer skulpturalen Gruppe der Himmelfahrt Mariens, dessen Ausführung ebenso unterblieb wie die eines 1664 in Amsterdam bei Rembrandt bestellten Hochaltargemäldes desselben Themas.

Das Tonmodell ist Bestandteil dieser Planung und zugleich integraler – und folglich authentischer – Bestandteil eines auf die Statue zuführenden Werkprozesses, der in fünf Schritten materiell überliefert ist: erstens, dem kleinen Tonmodell (modelletto oder auch bozzetto) des Musée Granet in Aix-en-Provence, dessen Höhe von 47 cm zeigt, dass Puget dem italienischen Norm-Maß des palmo architettonico oder „Bau-Palmo“, folgt, der 22,319 cm entspricht; zweitens, einer darauf bezogenen Zeichnung im Musée Grobet-Labadié in Marseille, deren Höhe von 46,8 cm gleichfalls zwei Palmen beträgt; drittens, dem hier vorgestellten Modell. Mit seinen 66 cm ist es – mit einer Toleranz von nur einem Zentimeter – drei Palmen hoch und folgt damit der nächsthöheren Maßeinheit, dem aus drei Palmen bestehenden sogenannten braccio romano; viertens, dem Modell im Cleveland Museum of Art, das mit seinen 69 cm praktisch demselben Norm-Maß folgt, und fünftens, der Statue aus Carrara-Marmor im Kuppelraum von S. Maria Assunta di Carignano, deren Höhe von etwas über 4 Metern 6 Braccien entspricht. Was folgt daraus für die Frage nach Stellung, Rolle und Bedeutung des Modells im Werkprozess? Die Antwort ist einfach: Allein schon seine Maße zeigen, dass in ihm mit der Ersetzung des palmo durch die höhere Maßeinheit des braccio der entscheidende Schritt in die Richtung der künftigen Statue getan ist, die mit ihrer Höhe von 6 Braccien nichts anderes als die Vergrößerung der Modellgröße um das Sechs­fache bringen wird.

Darüber hinaus dürfte schon der erste Blick auf das Modell dem Betrachter das auffallend Unabgeschlossene und Dynamische seiner Formgebung und mit diesem die spontane Einsicht in seinen Prozess-Charakter vermitteln. Punkt für Punkt dürfte der Vergleich mit seinem Gegenstück, dem Modell in Cleveland, seine andere, nämlich frühere Stellung im Werkprozess zeigen, Punkt für Punkt die ungleich flüchtigere, stellenweise nur andeutende Technik der Modellierung, Punkt für Punkt den Verzicht auf die Ausarbeitung der Einzelheiten, der anstelle der Modellierung vielfach zur graphischen Ritzung geführt hat, Punkt für Punkt den anderen, ungleich spontaneren Umgang des Künstlers mit dem leicht formbaren Material Ton. Die Beobachtung, es sei im Gegensatz zu dem Modell, das sich heute in Cleveland befindet, „zwar weniger sorgfältig, aber mit größerer Meisterschaft ausgeführt“, ist schon in seiner ersten Erwähnung aus dem Jahr 1877 enthalten. Der dort formulierte Eindruck herausragender künstlerischer Qualität findet seine Bestätigung in einer weiteren Beobachtung: der an dem Modell manifesten meisterhaften Technik der „Erfindung“ oder „Invention“. Anders als im Deutschen umfasst der Begriff in den romanischen Sprachen neben dem Moment der „Erfindung“ das der ihm vorausgehenden „Findung“. Pugets Aufgabe bestand in der Herstellung einer frontalen Monumentalstatue in bischöflichen Gewändern, und der erste Schritt zu deren Lösung in der „Findung“ eines passenden Vorbilds. Er fand es in einem damals aktuellen Großprojekt der italienischen Skulptur: Giovanni Lorenzo Berninis „Kathedra Petri“ mit den vier den Stuhl Petri tragenden Kolossalstatuen der Kirchenväter, deren Eins-zu-eins-Modelle (modelli in grande), die von der späteren Ausführung in Bronze noch erheblich abwichen, er im Winter 1661 in Rom in der Apsis von St. Peter studierte. Aus ihnen wählte er das ausdrucksvollste, die hochbewegte Profil­figur des Kirchenvaters und Bischofs Ambrosius. Allein, er studierte sie nicht von ihrer „richtigen“, sondern von ihrer „falschen“ Seite, nicht im Profil, sondern um neunzig Grad in die Frontalität gewendet. Von dort gewann er, wie der Blick auf das kleine Modell in Aix-en Provence und die korrelierende Zeichnung in Marseille zeigt, das auffallende Motiv des übergreifenden linken Arms, das die reiche Anordnung des Chormantels und damit den bizarren Umriss der Figur erst ermöglicht, von dort die linke Hand mit dem Bischofsstab, von dort den erhobenen rechten Arm, den er zur Geste formt, von dort den ausdrucksvoll nach oben gewendeten Kopf. Erst an dem hier in Rede stehenden Modell aber ist der Schritt in die „Erfindung“ des ganz Neuen getan: Der Bischofsstab, bis dahin in der linken Hand Saulis, wird nun von ihm getrennt und von einem Engel-Putto emporgehalten. Zu der nach oben agierenden Statue tritt eine zusätz­liche Handlung, die der zeitgenössische Betrachter als eine sinnbildliche deuten wird, sofern er nur die Biographie des Dargestellten kennt: Sauli, der aus Bescheidenheit das Erzbistum Genua und das Bistum Tortona ausgeschlagen hatte, der zur Annahme des Stuhls von Pavia gezwungen werden musste, und der sich deshalb – in des Wortes wahrster, nämlich anschaulicher Bedeutung – über sein bischöfliches Insigne „erhebt“.

Das Problem „Statue“, so könnte der Versuch einer knappen Antwort auf die uferlose Frage nach Stellung, Rolle und Bedeutung des Modells in einer Geschichte der neueren Skulptur lauten, scheint hier kurz nach 1660 neu formuliert. Was an ihm zu beobachten bleibt, ist die Verwandlung der Statue Alessandro Saulis in eine mit dem Ausdruck des Momentanen behaftete ereignishafte Gruppe. Man wird – wohl nur ein anderer Aspekt desselben Phänomens – angesichts seiner fast schwerelosen Gestalt von den Anzeichen einer Lockerung, ja Auflösung der Tektonik des Körpers sprechen können und von einem daraus erwachsenden hohen Maß an seelischem Ausdruck. Das Modell ist, knapp gesagt, eine der eindrucksvollsten Affektfiguren des siebzehnten Jahrhunderts. Gewiss wird man in ihr zunächst eine Variante der Formel der admiratio, der bewundernden Schau beim Anblick des Numinosen, des unbegreiflichen Göttlichen, wie sie von zahlreichen religiösen Affektfiguren bekannt ist, wiedererkennen wollen. Allein, angesichts des unter den Massen des Ornats aufwachsenden Körpers, der die Umrisslinie durchstoßenden Geste des erho­benen  Arms,  des  empor  gewendeten Kopfs mit dem aufgerissenen Mund wird man die Intensität ihres psychischen Ausdrucks als singulär ansehen und von einer Neuartigkeit der hier dargestellten und dem Betrachter so eindrucksvoll vermittelten Gefühlswelt sprechen können.