Bayrisches Bethlehem

Der im sächsischen Schloss Wolkenburg geborene Maler Fritz von Uhde (1848–1911) blieb in seiner Kunst dem Alltäglichen verpflichtet: Frei von traditioneller sakraler Überhöhung erweckte er auf seinen Leinwänden biblische Figuren stets in profanen Milieus zum Leben. 1890 nahm er sich die – als Teil der Weihnachtsgeschichte fest im kollektiven Gedächtnis der christlichen Kultur verankerte – beschwerliche Reise Maria und Josefs aus Nazareth vor: In seinem Ölgemälde „Gang nach Bethlehem“ führt er ein ärmlich gekleidetes Paar durch die Landschaft des Dachauer Mooses, wie er es zu Lebzeiten skizzierte. In feiner Lasur aufgetragen, verschleiern weiße Nebelschwaden das Ende des gefrorenen, unwegsam gewordenen Weges. Seiner Frau zugewandt, umfängt der Mann sie stützend mit seiner rechten, seinen eigenen Gang sichert ein Gehstock in der linken Hand. Durch die Unwirtlichkeit der kargen Winterlandschaft bewegen sie sich auf die vor ihnen liegende Häuserreihe zu, wo kleine, orange leuchtende Lichter warmen Unterschlupf verheißen. Auf der 92 × 110 cm großen Leinwand inszeniert Uhde in virtuoser Ölmalerei mit Sinn für künstlerische Innovation eine außerordentlich wirkungsvolle Szenerie: Die Bildtraditionen religiös aufgeladener Landschafts- und säkularer Genremalerei verbindend, schillern impressionistische Momente in der von Realismus geprägten Bildwelt. Kompositionen exakt nach detaillierten Landschaftsstudien aufzubauen, steht ebenso für Uhdes Schaffen wie die Verortung religiöser Themen in von Mangel und Not geprägten Umgebungen. Seit den 1880er-Jahren auf der Suche nach neuen Formen für christliche Sujets, trieb der Künstler im Werk von 1890 die Entsakralisierung auf die Spitze: Im Bild zeichnet lediglich die geschulterte Säge als Attribut des Zimmermanns Josef das biblische Personal aus, der abweisende Ort wandelt sich nur durch den Titel zur Station der durch das Lukasevangelium tradierten Weihnachtsgeschichte.

Dass der Maler biblische Figuren zu seinen Zeitgenossen machte, brachte ihm zunächst mehr Rüge als Ruhm ein. Als „Anarchistenfraß“ verunglimpfte Kaiser Wilhelm II.
(1859–1951) das 1886 gemalte, monumentale „Erste Abendmahl“ von Uhde, an dessen Tafel der Künstler den Komponisten Anton Bruckner zwischen den Jüngern platzierte. Die erste Version des „Gangs nach Bethlehem“ fand nur unter dem neutralen Titel „Der schwere Gang“ 1890 Eingang in die Königliche Neue Pinakothek in München. So bewahrheiteten sich Uhdes Bedenken, sein Werk würde „dem bornierten allgemeinen Geschmack … wenig zusagen“. War auch die wilhelminische Gesellschaft noch nicht vollends bereit für Uhdes Werke, zeigte sich der Berliner Sammler Rudolf Mosse (1843–1920) sehr empfänglich. Der Verleger und Kunstmäzen gab dem Mitbegründer und späteren Präsidenten der Münchener Secession noch im selben Jahr den Auftrag, für seine private Sammlung deutscher Kunst des 19. Jahrhunderts den „Gang nach Bethlehem“ ein weiteres Mal zu malen. Uhdes Meisterwerk war als Teil der Sammlung ab 1910 regelmäßig der Öffentlichkeit im sogenannten Mosseum zugänglich, dem neobarocken Stadtpalais am Leipziger Platz 15 im Herzen Berlins. Nach dem Tod Mosses 1920 ging neben seinem Berliner Verlagsimperium auch die Kunstsammlung an seine Tochter Felicia (1888–1972) und ihren Ehemann Hans Lachmann-Mosse (1885–1944) über.

Bis zum Ende der Weimarer Republik kämpfte die Verlegerfamilie mit ihrem publizistischen Flaggschiff, dem seit 1871 erschienenen linksliberalen „Berliner Tageblatt“, gegen zunehmende antisemitische und antidemokratische Strömungen. Doch kurz nach der Machtübernahme liquidierten die Nationalsozialisten die durch die Weltwirtschaftskrise stark angeschlagene Handelsgesellschaft und zwangen die als Juden verfolgten Nachkommen Mosses ins Exil. Die kostbare Kunstsammlung gelangte unter die Kontrolle des Regimes. Am 29. und 30. Mai 1934 zerschlug sie dann im Berliner Auktionshaus Rudolph Lepke der Auktionshammer. Der Zuschlag für die Los-Nummer 98, Fritz von Uhdes „Gang nach Bethlehem“, ging für 7.700 Reichsmark an einen Käufer namens Carl Braunstein. Aus der Sammlung Friedrich und Rosa Klein gelangte das Gemälde über vierzig Jahre später mit 14 weiteren Werken als Stiftung in die Sammlung des Museum Wiesbaden. Nach der Restitution an die Erben nach Rudolf Mosse im Jahr 2016 konnte das Museum nun mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststiftung sowie der Hessischen Kulturstiftung das sakrale Historien- und profane Genremalerei verbindende Gemälde erwerben. Wie einst in Mosses Museum reiht sich Uhdes Werk im Wiesbadener Ausstellungshaus ein zwischen Gemälden von Wilhelm Leibl, Franz von Lenbach, Adolph Menzel, Max Liebermann und vielen weiteren Zeitgenossen des Malers.