Automatisierung des Schöpferischen
Ping, pong: Das schnelle Aufschlagen eines Plastikballs auf der Tischtennisplatte und Stimmengewirr erfüllen den hohen Raum. „Wir sehen die Rolle des Museums verändert“, proklamiert Margit Rosen noch im Eingangsbereich der Ausstellungsräume des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien. „Es gibt ein gesellschaftliches Bedürfnis nach öffentlichem Raum jenseits des Konsums, nach der Herstellung von Gemeinschaft, nach gemeinsamer Diskussion.“ In seinen 30 Jahren hat sich das Karlsruher Haus zu einem Ort entwickelt, der diese Wünsche den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt und Besucherinnen und Besuchern aus aller Welt erfüllt. Das Großprojekt „Open Codes“ (20.10.2017– 2.6.2019) ist Ausstellungsort, Co-Working-Space und Veranstaltungsort zugleich. „Vor allem Jugendliche verbringen hier ganze Tage“, berichtet die Leiterin der Abteilung Wissen – Sammlung, Archive & Forschung, während um uns herum mehrere Gruppen Kinder und Jugendlicher am Freitagmorgen die zweite Phase des Bildungsexperiments für sich entdecken: „Die Welt als Datenfeld“. „Im ersten Stock haben wir nun den ersten Teil der Sammlungsausstellung ‚Writing the History of the Future’ eröffnet“, sagt Rosen, die die Schau gemeinsam mit Peter Weibel kuratiert hat, mit Blick auf die großzügigen umlaufenden Galerien des ersten Obergeschosses. „Er eröffnet eine historische Tiefe im Hinblick auf das, was wir im Erdgeschoss in ‚Open Codes‘ zeigen. Denn viele der aktuellen Diskussionen werden bereits seit über 60 Jahren geführt. Welche Aufgaben können Computer übernehmen, können sie wirklich kreativ sein und welche Konsequenzen hat das für das Selbstverständnis des Menschen als schöpferisches Wesen? Viele Motive, die heute in der Diskussion um KI (Künstliche Intelligenz) auftauchen, waren damals schon präsent.“
Schwarz, Gelb, Rot, Blau auf weißem Grund: Was anmutet wie ein Pixel-Mondrian, stellt Margit Rosen als „weltgeschichtliches Objekt“ vor. In Gouache brachte der japanische Computerkunst-Pionier Hiroshi Kawano 1964 seine „Designs“ zu Papier. Errechnet hatte diese ein Computer. Die dem Werk zugrundeliegende Idee fand der Philosoph Kawano (1925 –2012) bei Max Bense (1910 –1990), der über die „Programmierung des Schönen“ (1960) schrieb. Der deutsche Philosoph hatte Überlegungen angestellt, „existierende Bilder in ihrer ‚ästhetischen Information‘ zu analysieren und auf der Basis dieser statistischen Auswertungen neue Bilder zu generieren“, erklärt Rosen. „Hiroshi Kawano wollte dieses Gedankenexperiment in der Praxis überprüfen. Er brachte sich das Programmieren bei und übersetzte die ästhetische These in einen Algorithmus. Das Prinzip, existierende Bilder zu analysieren und daraus Gestaltungsprinzipien abzuleiten, ist auch heute die Grundlage vieler KI-Projekte im Bereich der bildenden Kunst.“
In diesem Sinne tat Kawano, was der Ausstellungstitel verspricht: Er schrieb die Geschichte der Zukunft als einer der Künstler, „die über den technischen Horizont ihrer Zeit hinaus träumen“.
Der erste, am 23. Februar 2019 eröffnete Teil der Ausstellung zeigt vor allem kleinere Installationen in vier Bereichen: Die Anfänge der „Automatisierung des Schöpferischen“ erklärt die Kuratorin anhand früher Inkunabeln der Computer-Grafik und -Lyrik. Künstlerische Verwendung von Schrift und Sprache im Wandel der Medien – von Buchdruck bis zum Film – vermitteln u. a. Arbeiten der Konkreten Poesie. Die Frage des Erinnerns und seiner medialen Bedingtheit reflektieren Kunstwerke im dritten Themenabschnitt der Ausstellung. Im Zentrum des letzten steht die Aktivierung des Betrachters durch Op-Art und Kunst als Handlungsanweisung.
David Links „Poetry Machine“ lädt zur Teilnahme am Prozess automatischer Textgenese ein. Durch das Eintippen englischer Sätze in die frei im Raum stehende Tastatur aktiviert Margit Rosen den Prozess. „Das Programm versucht nun, in der Datenbank inhaltliche Verbindungen zu finden und daraus eine poetische Antwort zu generieren.“ Noch während sie die Arbeit erklärt, beginnen die Tasten sich von alleine zu bewegen, wie von unsichtbarer Hand angeschlagen. Der Text schreibt sich fort. „Das Wissen des Programms verändert sich. Gebe ich einen Begriff ein, der dem Programm bisher nicht bekannt war, geht es über eine Suchmaschine ins Internet, um herauszufinden in welchen semantischen Zusammenhängen der Begriff derzeit auftaucht. Welche Wissensgebiete ‚Poetry Machine’ sich erschließt, hängt also davon ab, was unsere Besucherinnen und Besucher eingeben.“ 2001 vom deutschen Künstler und Medientheoretiker David Link (*1971) programmiert, ist das Werk beispielhaft für die große Herausforderung in der Erhaltung von Netzkunst, deren Inhalt und Funktionsweise oft eng mit kommerziellen Online-Diensten verbunden sind: Suchmaschinen wie Google haben 2015 die Möglichkeiten für kostenlose automatisierte Suchanfragen drastisch eingeschränkt. Daher lässt David Link sein Werk nun auf eine andere Suchmaschine zugreifen. „Wenn diese den freien Zugang auch schließt, bringt uns das erst einmal in gewisse Schwierigkeiten“, bemerkt Margit Rosen trocken.
„Die Art, wie wir erinnern, ist im hohen Maße abhängig davon, welche Medien wir dafür zur Verfügung haben. Die Verbreitung der Fotografie hat unser privates und gesellschaftliches Erinnern ähnlich drastisch verändert wie allgemeine Alphabetisierung im 18. Jahrhundert. Nun bestimmen das Smartphone und die digitale Langzeitspeicherung in hohem Maße, was wir erinnern werden.“ Mit diesen Worten leitet die Kuratorin den dritten Teil der Ausstellung ein. Ein Raum ist der Erinnerung an die Geschichte der Munitionsfabrik gewidmet, in deren Räumlichkeiten sich das ZKM heute befindet. In seiner Mitte steht Graham Harwoods Installation „Lungs: Slave Labour“, ringsherum an den Wänden hängen Fotografien von Irmtrud Saarbourg, die den sogenannten Hallenbau A zeigen, als er nicht mehr Fabrik und noch nicht Kunstzentrum war. Harwood recherchierte anhand von Archivmaterialien persönliche Daten der während des Zweiten Weltkriegs in der Munitionsfabrik beschäftigten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. So errechnete er ihre theoretischen Lungenvolumina. Ihr synthetischer Atem klingt uns aus den Lautsprechern entgegen, über den Monitor flimmert ihr Name, ihr Alter, ihr Geburtsort. „Die Sound-Installation verschafft diesen Menschen, deren Geschichte kaum bekannt ist, eine deutliche Präsenz am Ort ihres Leids“, sagt Rosen.
Mit Werken aus Op-Art und Fluxus will das ZKM den Besucherinnen und Besuchern die Geschichte der Partizipation durch Kunst und im Ausstellungsraum vermitteln. „Es ist verboten, nicht zu partizipieren. Es ist verboten, nicht zu berühren“, postulierte die Groupe de Recherche d’Art Visuel bereits 1963. „Ein grundlegender Bruch mit dem Verhaltenskodex für die bürgerliche Kunstkontemplation. Die Betrachterinnen und Betrachter verharren nicht mehr in stiller Andacht. Sie sind nicht mehr reines Auge, sondern physische, handelnde Subjekte“, so ordnet Margit Rosen die historische Entwicklung ein. Mit Blick auf die vielen jungen Leute im Erdgeschoss fragt sie, ob ein Transfer der Erfahrung im Museum in die gelebte Wirklichkeit möglich ist: „Die Hoffnung in den 1960er-Jahren war es, dass sich der Mensch durch die Mitwirkung an ‚partizipativen‘ Kunstwerken als handelndes Subjekt erfährt und dann auch jenseits des Ausstellungsraums die Welt mitgestaltet, anstatt alles passiv über sich ergehen zu lassen. Die Diskussion, ob diese Art ästhetischer Erfahrung den Alltag verändern kann, wurde damals geführt und sie muss heute nochmals anders geführt werden.“
Ab dem 19. Juli wird der zweite Teil der Ausstellung im Erdgeschoss zu sehen sein. Dort finden die raumgreifenden Installationen von Nam June Paik, Bruce Nauman, Gary Hill, Steina Vasulka und weiteren Größen der Videokunst Platz. Auch die Pionierinnen und Pioniere der Computer-generierten Installationen und der Sound-Kunst werden hier präsentiert.
Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie, wie es bis 2016 hieß, gründete sich 1989 zu einer Zeit vor der Verbreitung des privaten Rechners, vor dem Internet. „Die Idee der Gründer und Stifter, Digitalisierung und technischen Wandel nicht als einen allein von Industrie und Handel bestimmten Prozess zu akzeptieren, sondern über die Gründung dieser Kultur- und Kunstinstitution auch gesellschaftlichen Akteuren Gestaltungsräume zu eröffnen, war sehr weitsichtig. Denn das Ausmaß der Veränderungen war damals nicht absehbar“, reflektiert Margit Rosen, die seit 1999 im ZKM arbeitet. Seit sie 2016 die Leitung der Abteilung Wissen übernahm, führte die Kunsthistorikerin drei historisch gewachsene Sammlungsbereiche zusammen: Erstmalig zeigt die Ausstellung Arbeiten aus den ehemaligen Abteilungen „Medienmuseum“, „Museum für Neue Kunst“ und „Mediathek“ in der Zusammenschau. „Somit haben wir nun tatsächlich ein Museum aller Gattungen, wie es von Anfang an intendiert war.“ Aktuell experimentiere das ZKM mit KI. „Wir wollen sehen, welchen ästhetischen Horizont die neuen Technologien eröffnen. Ob und wie diese Technologie die Kunst formal und in ihren Verfahren verändern wird, wird sich zeigen. Georg Muche, der am Bauhaus lehrte, das auch für das ZKM Vorbild war, ermunterte 1954 Künstlerinnen und Künstler, sich den Technologien ihrer Zeit zuzuwenden, mit einem Vortrag, dessen Titel lautete: ,Die Kunst stirbt nicht an der Technik‘.“