Ausgegrabene Neuigkeiten

Sieben Briefe, verfasst auf insgesamt 18 eng beschriebenen Seiten, sowie sechs unausgearbeitete Antwortschreiben auf zehn Seiten geben unvergleichliche Einblicke in Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768) Leben und Wirken in Rom. Im Dienste römischer Kardinäle arbeitete der Urvater der wissenschaftlichen Archäologie von 1755 bis 1768 in der italienischen Antiken-Hauptstadt. Im stetigen Austausch mit dem kursächsischen Hof erstattete der Altertumsforscher in regelmäßigen Abständen eigenhändig Bericht: Adressat der in italienischer Sprache verfassten Briefe und Autor der größtenteils französischen Antwortkonzepte ist der kurprinzliche Oberhofmeister Graf Wackerbarth-Salmour (1685–1761), der den sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian (1722–1763) und dessen Gemahlin über Winckelmanns Neuigkeiten aus Rom informierte. Seit seiner Zeit in Dresden – Winckelmann hatte sich dort mit der königlichen Antikensammlung beschäftigt – unterstützte das Kurprinzenpaar den Kunsthistoriker, der zusammen mit Goethe und Schiller die ästhetische Ideengeschichte Deutschlands nachhaltig prägte. Dankbar gegenüber seinen Förderern, die ihm auch bei seinem Aufenthalt in Italien verbunden blieben, fühlte er sich verpflichtet, stets über seine Aktivitäten zu informieren.

Kern der Mitteilungen sind die Beschreibungen archäologischer Fundstücke, die Winckelmann für seine im Entstehen begriffenen Schriften untersuchte: Von einer besonders schönen Venusstatue ohne Kopf bis zu einer gut erhaltenen, aber „künstlerisch mittelmäßigen“ Perseus-Andromeda-Gruppe bewertet der Kunsthistoriker sprachgewaltig und fachkundig die antiken Ausgrabungen. So äußert er sich beispielsweise über eben jene Venusstatue, die nach einem trojanischen Vorbild geschaffen wurde und die sein damaliger Arbeitgeber, Kardinal Alessandro Albani (1692–1779), zu erwerben versuchte: „Diese Figur zählt zu den Wundern der Kunst und wirft alle anderen Veneres in den Staub.“ Auch seinen französischen Kritikern, die entgegen seiner Ideale die Schönheit barocker Kunst proklamierten, widmete sich Winckelmann in seinen Berichten: Der Forscher war Intrigen, Feindseligkeiten und der Inkompetenz von „Pseudo-Antiquaren“ ausgesetzt. Aus den sechs von Graf Wackerbarth konzipierten Antwortschreiben geht jedoch hervor, dass Winckelmann selbst in dieser schwierigen Situation auf die moralische und finanzielle Unterstützung des Kurprinzenpaars zählen konnte.

Das Briefkonvolut, das die Jahre 1759 bis 1761 umfasst, verdeutlicht die enge Beziehung Winckelmanns zu Sachsen und zum kursächsischen Hof. Nach Dresden pflegte er auch ab 1755 aus Italien weiterhin brieflichen Kontakt mit Künstlern und Gelehrten. Seinen Gönner Kurprinz Friedrich Christian erreichten die Erfolge Winckelmanns jedoch nicht in der sächsischen Hauptstadt: Aufgrund der preußischen Besetzung Sachsens im Siebenjährigen Krieg weilte dieser von 1759 bis 1762 im Münchner Exil. Wahrscheinlich über den aus einer piemontesischen Familie stammenden Graf Wackerbarth – Bindeglied zwischen Winckelmann in Rom und dem sächsischen Kurprinzen in München – gelangte die bisher unveröffentlichte Korrespondenz in der Folgezeit in eine italienische Privatsammlung.

Anfang 2017 wurde das Konvolut schließlich im österreichischen Antiquariatshandel angeboten, worauf die SLUB – passend zum 300. Geburtstag Winckelmanns – den sensationellen Ankauf forcierte. Winckelmann-Autographen sind im internationalen Antiquariats- und Auktionshandel selten und, als Einzelstücke angeboten, begehrte Sammlerobjekte. Rund 35 Jahre liegt der letzte Fund eines größeren Konvoluts von Winckelmann-Briefen zurück – damals zur großen Freude der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Die Bedeutung der Neuwerbung für die SLUB liegt vor allem im hohen Quellengehalt der Briefe: Sie geben nicht nur Aufschluss über Winckelmanns Tätigkeiten in Rom, sondern beleuchten auch die Kunstpolitik des Dresdner Hofes am Ausgang des augusteischen Zeitalters. Mit der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung kann dieses bedeutende Kulturgut Sachsens und Deutschlands erstmals der Öffentlichkeit präsentiert werden. In der SLUB ergänzt das Konvolut den Bestand zu Winckelmann, der bisher aus sechs Manuskripten und drei Briefen besteht. Damit sind nun die Weichen für eine umfangreiche Erforschung der Schriften Winckelmanns in der Zukunft gestellt, zumal die Korrespondenz auch weltweit in den digitalen Sammlungen der SLUB zugänglich ist: http://digital.slub-dresden.de/id49251724X