Auftrag: Kunst
Als künstlerisches Universaltalent bereitete Henry van de Velde den Boden für die Designkunst der Moderne. Wie gestaltet sich die Produktionslandschaft von Kunst und Design heute, rund hundert Jahre später? Für Arsprototo hat Antonia Kölbl den Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich nach seinen persönlichen Einschätzungen der aktuellen Entwicklungen gefragt.
Antonia Kölbl: Künstler machen Kunst, aber viele Künstler nehmen auch kommerzielle Aufträge an. Ob Produktdesign oder Innenarchitektur: Wenn Künstler die Grenze zwischen bildender und angewandter Kunst ignorieren, haben sie dann mehr Erfolg?
Wolfgang Ullrich: Diese Unterscheidung spielt von vornherein keine Rolle mehr. Werke erfolgreicher Künstler gehen heute im durchkomponierten Lifestyle-Zusammenhang auf. Die Trennung von bildender und angewandter Kunst ist damit zu einer akademischen Frage geworden. Natürlich kommen Künstler wie Tobias Rehberger aus der freien Kunst. Aber sie machen längst genauso Möbel, Lampen und Vasen; Objekte, die zum Einrichten schöner Häuser gedacht sind. Damit reagieren Rehberger und seine Kollegen auf die Nachfrage vieler privater Sammlerinnen und Sammler. Das Bild an der Wand oder die Skulptur auf dem Sockel befriedigt die gestalterisch-ästhetischen Bedürfnisse der Sammelnden nicht mehr. Man möchte eine bestimmte Atmosphäre schaffen und sich damit repräsentieren, sich selbst darstellen.

Mit der gestiegenen Anzahl von Sammlern hat sich auch der Sehnsuchtsort der Künstler verschoben: So ist nicht unbedingt das Museum der begehrte Ort, sondern genauso sind es eben auch private Sammlungen. All das begünstigt das Verwischen der Grenze von freier und angewandter Kunst. Diese Trennung ist eine Erfindung der Romantik: Es war die Idee der autonomen Kunst, die zu dieser strikten Unterscheidung führte.
AK: Wollen diese Künstler in ihrer Vielfältigkeit ein Gesamtkunstwerk gestalten oder produzieren sie schlicht einzelne Produkte?
WU: Heute braucht man den ambitionierten Begriff eines Gesamtkunstwerkes gar nicht mehr, um zu legitimieren, dass man neben der Rauminstallation auch eine Handtasche entwirft. Man kann es ungestraft tun. Im Allgemeinen sind es also einzelne Produkte, die entstehen. Ich kenne kein Beispiel, wo ein zeitgenössischer Künstler ein komplettes Design – sozusagen ein Corporate Design – für eine Familie oder einen Sammler entworfen hat. Gerade die berühmten Künstler folgen einer Markenlogik und sind darum bemüht, als bestenfalls globales Label möglichst vielfältig präsent zu sein. Angesicht der globalen Nachfrage wäre es für einen Künstler geradezu unwirtschaftlich, einen Haushalt individuell auszustatten.
AK: Ein breit angelegtes Produktportfolio, ein internationaler Kundenstamm: Als Geschäftsmodell kann das ein einzelner Künstler nicht leisten.
WU: Erfolgreiche Künstler arbeiten heute in sehr großem Umfang im Werkstattbetrieb oder beauftragen externe Unternehmen. In den 1990er-Jahren wurde noch hinter vorgehaltener Hand getuschelt, der macht ja gar nicht alles selber, da gibt es irgendwo drei Brüder in Niederösterreich, die ganz viel für ihn machen. Seit 10, 15 Jahren hat sich das ganz offen als Statussymbol einer bestimmten Liga von Künstlern etabliert. Ihr Erfolg bemisst sich darin, viele Mitarbeiter zu beschäftigen, die in den besten Manufakturen mit allen verfügbaren Techniken produzieren können, egal ob in Thüringen, Venedig oder Pennsylvania. Damit signalisieren sie ihre globale Bedeutung und präsentieren sich eher als Manager, als Unternehmer, die alles im Griff haben und geschickt delegieren können.
AK: Managen die Künstler nur die Umsetzung ihrer Ideen oder lassen sie auch die Entwürfe selbst von anderen erarbeiten?
WU: Ob Sie Olafur Eliasson nehmen oder Anselm Reyle: Beide kommunizieren offen, dass sie Angestellte beschäftigen, die in ihrem Studio experimentieren und neue Werkformen prototypisch entwickeln. Auch hier lagern die international agierenden Künstler also aus. Was in die Produktion geht, entscheiden aber immer noch die Künstler selbst. Dieser Arbeitsprozess ist vergleichbar mit einem großen Architekturbüro. Dort hat nicht zwingend der namensgebende Architekt die Ideen für Proportionen eines Hauses oder gibt vor, mit welcher Strategie man einen Wettbewerb angeht. Natürlich wählt der führende Architekt aus den Ideen aus und trifft die letzte Entscheidung.
AK: Unterscheidet sich der zeitgenössische Künstler dann noch vom Marketingspezialisten?
WU: Eigentlich nicht. Wann immer Sie Homestories oder Interviews mit diesen Künstlern lesen, erfahren Sie von den vielen Reisen und einem großen Netzwerk. Auf diese Weise betreiben die Künstler, wenn Sie so wollen, Marktforschung. Die Erkenntnisse spielen sie dann wieder an ihre Studios oder Partner zurück. Ähnlich verfahren auch Chefredakteure großer Magazine, die Chefs wichtiger Mode-Labels: Wie die Künstler wollen alle führenden Gestalter Einfluss auf den Lifestyle der Menschen nehmen.

AK: Sie zeichnen in Ihren Publikationen gerne das Bild vom erfolgreichen Künstler als Global Player auf einem internationalen Luxusmarkt. Wie reagieren Unternehmen anderer Branchen darauf, die den gleichen Markt bespielen?
WU: Modeunternehmen bemühen sich zum Beispiel um Kooperationen, wie im Fall von Louis Vuitton und Jeff Koons. Für die Außenstehenden ist es meist nicht erkennbar, von wem die Initiative ausging. Ich vermute aber, dass es lange Zeit die Unternehmen waren, die den ersten Schritt gemacht haben. Auf jeden Fall versprechen sich beide Seiten von der Zusammenarbeit eine Erweiterung, Abrundung, Verbesserung ihres eigenen Images.
Das erkannten beispielsweise auch schon die Werkstätten von Peter Rubens und Jan Brueghel d. Ä. im Antwerpen des 17. Jahrhunderts. Da malte die Rubens-Werkstatt die Maria, aus der Brueghel-Werkstatt kamen die Blumenkränze. Zwei berühmte Künstler verkaufen sich besser als einer – eine einfache und zeitlose Rechnung.
AK: Erfolgreiche Konzepte machen Schule. Es wäre nur konsequent, wenn einzelne Künstler ihren wirtschaftlichen Erfolg durch selbst ausgebildeten Nachwuchs, durch die Gründung eigener Labels weiter etablieren würden.
WU: Mich wundert es, dass es dazu noch nicht gekommen ist. Dass nicht schon jemand wie Takashi Murakami, der bereits andere Künstler in seinem Markenshop vertreibt, eigene Leute ausbildet oder wenigstens eine Infrastruktur schafft, um Nachwuchskräfte im Sub-Label heranzubilden für das Haupt-Label. So müsste die Antwort der wirtschaftlich erfolgreichen Künstler auf die Entwicklungen der letzten Jahre lauten.
Auf Dauer wird es kaum noch möglich sein, dass Kunsthochschulen ihren Status wahren können und ein übergreifendes Dach bieten für alle, die im weitesten Sinn Kunst machen wollen.
AK: Bedienten Künstler wie Henry van de Velde Anfang des 20. Jahrhunderts bereits einen transnationalen, mitteleuropäischen Markt, agieren zeitgenössische Künstler heute weltweit. Wie nah kann man dem eigenen Werk dann noch sein?
WU: Wenn Sie Ai Weiwei auf Instagram folgen, sehen Sie, was es heißt, als Künstler ein Global Player zu sein. Jeden Tag in einem anderen Land, gibt der Künstler Monate vor einer Ausstellung seine Werke im jeweiligen Kontinent in Auftrag. Er wäre also gar nicht in der Lage, die Produktionsprozesse überall vor Ort zu begleiten. Zu viel passiert gleichzeitig an zu entfernten Orten. Kurz vor der Eröffnung kommt der Künstler dann an den Ort der jeweiligen Ausstellung, trifft vielleicht noch ein paar Entscheidungen. Vom Produktionsprozess weitestgehend entfremdet, schlüpft der Schöpfer in die Rolle des ersten Rezipienten der eigenen Arbeit. Ich schließe es auch nicht aus, dass Arbeiten unter dem Namen von Künstlern verkauft werden, die diese Arbeiten weder in der Hand hatten noch in Augenschein genommen haben.
AK: Wird die klassische Auftragskultur durch diese Entwicklungen nicht obsolet?
WU: Ganz im Gegenteil: Es gibt wieder mehr Auftragskunst als in der klassischen Moderne. Auch wenn die ganz großen Namen sich nicht auf individuelle Aufträge einlassen, sondern lediglich ihre Markenprodukte herstellen, gibt es noch viele, die Auftragsarbeiten machen. Sie kommen zu einem nach Hause und malen die Wand an.
Den Auftraggebern geht es um das schöne Gefühl, ein Einzelstück zu haben, an dessen Entstehung sie selbst beteiligt waren. Das ist der große Reiz. Dazu müssen die Künstler sich aber ihres modernen Autonomiestolzes entledigt haben.
AK: Die Freude am Unikalen – das von Ihnen skizzierte Erfolgskonzept der Kunstschaffenden legt nahe, dass dieses Vergnügen für die Sammler zeitgenössischer Kunst nicht entscheidend ist. Sind vor allem Auflagenwerke aus Produktpaletten attraktiv?
WU: Es gibt zwei verschiedene Sammlertypen. Der konservative – „altmodisch“ klingt zu negativ – verbindet Kunst noch mit Einzigartigkeit, mit Originalität. Er definiert seine eigene Individualität darüber, etwas zu besitzen, was kein anderer hat. Ganz anders der zweite: Hier gewinnt die eigene Sammlung, wenn sie ähnliche Werke beinhaltet wie noch bekanntere, renommiertere Kollektionen. Auflagen-Kunst stellt somit Verbindungen zu anderen Sammlern her, schafft Vergleichbarkeit und Wettbewerb. Dieser Sammlertypus kauft weniger Kunst als Markenprodukte. Wenn er einen Damien Hirst kauft, soll man den auch als solchen erkennen. Diese Strategie mag auch auf einer gewissen Unsicherheit beruhen: Das zu kaufen, was bereits etablierte Sammler gekauft haben, erscheint als sichere Bank. Neu einsteigende Sammler etwa aus Asien oder der arabischen Welt orientieren sich an dem, was in den USA, England oder Deutschland schon seit längerem gekauft und gesammelt wird.
Paradoxerweise bedeutet das, dass gerade Künstler, die sehr viele sehr ähnliche Werke schaffen, diese zu einem höheren Preis verkaufen können als Künstler, die ihre einzelnen Werke unverwechselbar anlegen.

AK: Museen sind nicht mehr der primäre Ort, für den Künstler ihre Werke schaffen. Doch gibt es noch Sammler, die ihre Arbeiten in die öffentlichen Hallen der Kunst übergeben wollen?
WU: Grundsätzlich sind Museen nicht der erste Ansprechpartner für Sammler, die verkaufen wollen. Sie wissen, dass sich dort die finanziellen Ressourcen nicht mit ihren Preisvorstellungen decken. Also werden sie immer versuchen, auf dem Kunstmarkt zu reüssieren.
Museen gleichen – im Guten wie im Schlechten – einer Endstation. Das kann beruhigend sein, es kann aber auch Panik auslösen. Das hängt von der Psychologie und von der Lebenssituation dessen ab, der seine Sammlung an ein Museum übergeben möchte. Insbesondere, wenn der Besitzer mit seinen Objekten lebt, verstehe ich die Zögerlichkeit beim Loslassen. Das wäre schon ein kleiner Tod.
AK: Kunsthistorische Narrationen finden im Museum ihren Raum. Spielt die Einordnung in oder die Opposition zur Kunstgeschichte heute überhaupt noch eine Rolle?
WU: Kunsthistorische Zusammenhänge haben an Relevanz verloren. Zwar schöpft man hier und da aus dem reichen Pool der Geschichte. Doch rekurriert man lediglich auf das, was im Sinne der Marken- und Konsumkultur ein gutes Image hat und somit das eigene positiv beeinflusst. Man will sich nicht als Fortsetzung, als Steigerung, als Störung sehen, sondern bedient sich der Kunstgeschichte höchstens als Assoziationsraum für die eigene Arbeit. Doch bleibt das unverbindlich, eben ohne starke Idee von der Geschichte der Kunst, die man unbedingt fortschreiben will. Es geht vielmehr um ein Markenprodukterlebnis.
AK: Henry van de Velde verkörpert am Vorabend der Moderne bereits sehr viel von dem, was Sie für die zeitgenössischen Künstler beschreiben: Als freier Künstler ausgebildet, feierte er seine Erfolge im Bereich der angewandten Kunst. Seine Werke entstanden sowohl im eigenen Betrieb als auch in Zusammenarbeit mit bereits renommierten Unternehmen. Er gründete eine eigene Schule, die sich auf innovative Lehrkonzepte stützte. Schließlich arbeitete er für Auftraggeber, die einen umfassenden ästhetischen Anspruch hatten. Und es waren private Personen, nicht Museen, für die er seine Werke konzipierte – vom Teelöffel bis zum Herrenhaus. Sind die heutigen Entwicklungen ein Rückgriff auf die Zeit um 1900?
WU: Die Moderne insgesamt war nicht die harte Zäsur, als die sie oft verstanden wird und als die sie auch erscheinen wollte. Doch die von uns erwähnten Künstler, die äußerlich sehr ähnlich arbeiten wie van de Velde, verfolgen nicht mehr die gleichen Sinnbedürfnisse, ideelle Ziele und Inhalte spielen kaum noch eine Rolle. Die Idee, dass mit formaler Gestaltung, mit einem bestimmten Materialumgang eine Charakterbildung der Menschen erreicht wird, kann ich heute nicht mehr erkennen. Warum sollten Damien Hirsts „Spot Paintings“ sie besser oder glücklicher machen?
Die repräsentative Dimension ist viel stärker geworden; das ist der größte Unterschied zur Zeit van de Veldes. Natürlich spielte Repräsentation auch damals eine Rolle, aber nicht primär und schon gar nicht ausschließlich. Heute steht sie an oberster Stelle: Objekte müssen ihren Besitzer nach außen repräsentieren. Sie müssen auf Instagram gut aussehen. Ob ihr Designer-Schreibtisch sie prägt, verändert, erhebt, sensibilisiert, läutert… das ist egal. Kunstwerke staffieren das Selbstbild des Besitzers aus.