Athenas neuer Nachbar

Der sogenannte Alberici-Sarkophag gehört zu den antiken Monumenten, die schon sehr früh in der Neuzeit auf die Entwicklung der europäischen Kunst gewirkt haben. Um 1555 ist eine besonders schöne anonyme Zeichnung entstanden, die im Codex Coburgensis verwahrt ist. Immer wieder wurde diese graphische Arbeit aufgegriffen und nachgezeichnet. Battista Franco zeichnete dagegen wohl vor dem antiken Original, das sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts in der römischen Kirche Ss. Cosmas und Damian befand, gibt jedoch im Detail keine getreue Wiedergabe.

Der Mythos von Athena, Marsyas und Apoll, Römischer Marmorsarkophag, Ende 2. Jh. n. Chr. © Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt; Foto: Rühl & Bormann
Der Mythos von Athena, Marsyas und Apoll, Römischer Marmorsarkophag, Ende 2. Jh. n. Chr. © Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt; Foto: Rühl & Bormann

Der Marmorsarkophag ist am Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. in einer der wichtigsten stadtrömischen Werkstätten entstanden, er wird der Zeit des antoninischen Stilwandels zugeordnet. In dieser Phase, die als der Höhepunkt der römischen Sarkophagkunst gilt, war es gelungen, die erstarrte Haltung des hadrianischen Klassizismus zu überwinden. Die Sarkophagreliefs sind nun reich an Figuren, die in ungewöhnlich lebendigen Kompositionen zusammengestellt werden. Somit entstehen erstmals Merkmale eines Figurenstils und einer Bildsprache, die im europäischen Manierismus und im frühen Barock wieder auftauchen. Womöglich hat die Beschäftigung der Renaissancekünstler mit einem antiken Objekt wie dem Alberici-Sarkophag diese Erneuerung befördert.

Der Sarkophag zeigt den Mythos von Athena, Marsyas und Apoll. Athena war Gorgo Medusa in einem Schönheitswettbewerb unterlegen. Die Göttin nimmt Rache, indem sie Medusa zunächst in ein hässliches Schreckgespenst verwandelt und später dem Helden Perseus bei der Enthauptung der Rivalin tatkräftig helfen wird. Doch der Klagegesang ihrer Schwestern beeindruckt Athena, vielleicht auch aus Reue erfindet sie ein doppeltes Rohrblattinstrument, also eine Art Oboe, die in der Antike Aulos genannt wurde. Sie möchte den Gesang der Gorgonen festhalten und beginnt sich in ihr Flötenspiel zu verlieben. Doch als sie entdeckt, dass ihr Gesicht beim Spiel blau anläuft, wirft sie das Instrument fort. Der Silen Marsyas entdeckt die Doppelflöten und bald sein ungewöhnliches, ja beinahe göttliches Talent. Apoll ist herausgefordert: In einem Wettstreit unterliegt Marsyas, und der Gott nimmt erbarmungslos Rache. Der Silen, an einen Baum gefesselt, wird bei lebendigem Leib gehäutet.

Der Mythos wurde von den antiken Künstlern vielfach aufgegriffen. Selten ist er jedoch so detailliert und gekonnt ins Bild gesetzt wie auf dem Sarkophag, der sich in Frankfurt befindet. Mit großem Geschick sind die neun Musen, die als Jury im musikalischen Wettstreit fungieren, in den Bildhintergrund gesetzt. Vor diesem belebten Bildfond sind drei zeitlich differierende Episoden des Mythos gestellt. Im Zentrum dominieren Marsyas und Apoll als Protagonisten des Wettstreits. Ihre Körper sind einander zugewandt, streben andererseits auseinander. Apoll hält die Kithara in seiner Linken und betrachtet Marsyas, der auf der Aulos spielt.

Statue einer Muse vor thronenden Apoll, Marsyas-Sarkophag, Querseite, 2. Jh. n. Chr.
Statue einer Muse vor thronenden Apoll, Marsyas-Sarkophag, Querseite, 2. Jh. n. Chr.

Kraftvoll gerahmt wird das Geschehen durch zwei „thronende“ Frauen: Rechts ist es Kybele, die göttliche Herrscherin über Phrygien, den Schauplatz des Geschehens. Links bildet Leto, die Mutter des Apoll, den Auftakt einer kleinen Gruppe von Anhängern ihres Sohnes. Hinter ihr erscheint Artemis, die Zwillingsschwester des Kitharöden. Aber auch Marsyas findet Unterstützung durch eine kleine Fangemeinschaft: Der Wein- und Theatergott Dionysos, ein Silen und ein junger Satyriskos haben im Rücken der Kybele zusammengefunden.

Am äußersten linken Bildrand thront der stolze Apoll, der von Nike mit einem Palmzweig als dem Zeichen des Sieges geehrt wird. Vor dem Gott kniet Olympos, der Lieblingsschüler des Marsyas. Er fleht um das Leben seines Lehrers. Doch umsonst: Am rechten Bildrand hängt Marsyas bereits am Ast einer Fichte, seine Hände waren zuvor gefesselt worden. Vor dem Unterlegenen kniet eine Person, ein Skythe, der auf einem großen Stein das Messer wetzt. Im nächsten Augenblick wird er zur grausamen Tat der Häutung und damit der Vernichtung eines großartigen Musikers, der von den Menschen wegen seiner Interpretationen, aber auch wegen seiner herrlichen Kompositionen gefeiert worden war, schreiten.

Die Sarkophagwanne ist vollständig erhalten. Kleinere Risse, die retuschiert wurden, finden sich an der Vorderseite und an der linken Nebenseite. Irgendwann nach der Mitte des 16. Jahrhunderts wurde der Sarkophag als Brunnen genutzt. Man schreckte nicht vor der Frechheit zurück, einigen nackten Protagonisten anstelle des männlichen Geschlechts kleine Bleirohre einzusetzen. Aus diesen Röhrchen trat also ein nicht versiegender kleiner Wasserstrahl aus.

Der Städelsche Museumsverein hat den Sarkophag mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Frankfurter Kommune anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Liebieghauses erworben. Es ist als großer Glücksfall zu werten, dass dieses Objekt nun die wichtigste Figur der Frankfurter Antikensammlung bereichert. Hatte doch die berühmte Athena des griechischen Bildhauers Myron ursprünglich auf ihrer Basis ein Gegenüber: den tänzelnden Silen Marsyas, der gerade die von Athena fortgeworfene Flöte entdeckt.