Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918

Unter den Matrosen der kaiserlichen Hochseeflotte machte sich Entsetzen breit: Schien die Niederlage des Ersten Weltkriegs im Herbst 1918 bereits so gut wie sicher, glich der Befehl der deutschen Marineführung, in eine Entscheidungsschlacht gegen die überlegene Royal Navy zu ziehen, einer Freifahrt in den Tod. Schon längst war die zu Beginn des Krieges noch vorherrschende Euphorie Ernüchterung, Verdrossenheit und Enttäuschung gewichen. Einerseits von der Aussichtslosigkeit des Manövers überzeugt, waren die Marinesoldaten andererseits zu striktem Gehorsam verpflichtet. Dennoch verweigerten am 29. Oktober 1918 einige mutige Ma­trosen den Befehl, zu einem Seegefecht gegen England auszulaufen. Von einer Welle der Wut erfasst, schlossen sich immer mehr Matrosen ihren Kameraden an. Noch am selben Abend kam es auf einigen Linienschiffen zu größeren Ausschreitungen. Von den meuternden Truppen überfordert, ließen Admiral Scheer und die anderen Mitglieder des Flottenkommandos die Schiffe des III. Geschwaders in ihren Heimathafen Kiel verlegen, in der Hoffnung, die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Doch damit nicht genug: Als die Schiffe in der Nacht zum 1. November die Kiel-Holtenauer Schleuse durchfuhren, ließen sie insgesamt 47 Matrosen als vermeintliche Rädelsführer der Unruhen festnehmen. Die Situation lief damit endgültig aus dem Ruder. Getrieben von der Frustration und Empörung über die Inhaftierung ihrer Kameraden, trafen sich rund 250 Matrosen im Kieler Gewerkschaftshaus. Zahlreiche Arbeiter der Stadt solidarisierten sich mit ihnen – auch sie waren durch Versorgungsmängel und sinkende Löhne an die Grenzen ihrer Leistungsbereitschaft und ihrer Geduld gebracht worden. Die folgenden fünf Tage waren geprägt von Versammlungen, Massendemonstrationen und teils blu­tigen Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit, die wiederum vergeblich versuchte, den Aufstand unter Kontrolle zu bringen. Sogenannte Sturm­vögel reisten von Kiel aus in weite Teile Deutschlands, sodass der revolutionäre Funke schnell auch auf die anderen Städte übersprang und schließlich das Ende des Krieges und der Monarchie herbeizwang.

Anlässlich des 100. Jahrestages würdigt die Landeshauptstadt Kiel zusammen mit dem Land Schleswig-Holstein den Kieler Matrosenaufstand von 1918 als Wegmarke der deutschen Demokratiegeschichte und widmet dem Thema erstmals eine große Sonderausstellung. In der historischen Fischhalle des Kieler Stadt- und Schifffahrtsmu­seums offenbaren über 400 Exponate wie historische Flugblätter, Fotografien, Plakate, Postkarten, Zeichnungen und Gemälde eine umfassende, multiperspektivisch aufbereitete Darstellung der Ereignisse rund um den November von 1918. Ausgehend von der gesellschaftlichen Situation im Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg vermittelt die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Schau einen Eindruck von den treibenden Kräften und Hemmnissen über die Zeit des Ersten Weltkrieges auf dem Weg zur politischen Emanzipation bis hin zu den unmittelbaren Folgeentwicklungen. Was waren die Auslöser für die Revolution? Wie sind die revolutionären Prozesse im Nachhinein zu bewerten? Welche Rolle spielten politische Bilder, Kommunikation und Propaganda? Mit einem quellenkritischen Blick nähert sich die Ausstellung den verschiedenen sozialen wie politischen Voraussetzungen des Aufstandes und zeigt die Komplexität von Motiven der einzelnen Akteure auf. Einen weiteren Fokus richtet die Schau auf die Rezeptionsgeschichte und Erinnerungskultur. So möchte die Ausstellung den Kieler Matrosenaufstand endgültig von den politisch-ideologischen Vereinnahmungen und Mythenbildungen der Vergangenheit wie der „Dolchstoß­legende“ befreien. Ergänzt durch eine umfangreiche Begleitpublikation leistet die Schau somit einen wichtigen Forschungsbeitrag zum Kieler Matrosenaufstand als ein Ereignis von nationalgeschichtlicher Bedeutung.