Keramikschalen mit Figuren
AUSSTELLUNG / NORDRHEIN-WESTFALEN

Anpassung und Distinktion

Das Verbundprojekt „Parvenue“ erzählt in drei Ausstellungen vom bürgerlichen Aufstieg im Spiegel der Objektkultur im 18. Jahrhundert / Jenny Berg

Seien es Millionencoups wie die entwendeten Juwelen aus dem Grünen Gewölbe in Dresden oder kleinere Delikte, über die in der Presse berichtet wird: je detaillierter die Beschreibung der Diebesbeute, desto größer die Hoffnung, den Täter überführen zu können. Für Isa Fleischmann-Heck, stellvertretende Direktorin des Deutschen Textilmuseums Krefeld, und Marion Rudel von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf hat die öffentlichkeitswirksame Dokumentation von Diebesgut noch einen ganz anderen Nutzen: Im Rahmen des Forschungsprojekts „PARVENUE“ werteten die beiden zahlreiche historische Diebstahlsanzeigen aus, mit dem Ziel, Aussagen über den Besitz und Konsum von Gegenständen, insbesondere von Textilien der Bürger am Niederrhein des 18. Jahrhunderts gewinnen zu können. Welche Luxusartikel waren besonders begehrt? Was gaben die Einbrüche in Privathaushalte und die Diebstähle in Ladengeschäfte überhaupt her? Erschienen sind die Diebstahlsbeschreibungen in den sogenannten, mit heutigen Anzeigenblättern vergleichbaren, Duisburger Intelligenz-Zetteln in den Jahren von 1727 bis 1744 und von 1750 bis 1805 – wobei „Intelligenz“ hier in seinem damaligen Sprachgebrauch als „in Kenntnis setzen“ zu verstehen ist. Auch dort aufgeführte Personenbeschreibungen flüchtiger oder vermisster Menschen sowie Verkaufsanzeigen boten den beiden Wissenschaftlerinnen eine Möglichkeit, im Rahmen ihres Teilprojektes Informationen zum Besitz von Textilien, zum Angebot an Materialien und zum Kleidungsverhalten sowohl der städtischen als auch ländlichen Bevölkerungsgruppen in den westlichen preußischen Landesteilen zu sammeln. Überraschend ist die Ausführlichkeit und Detailgenauigkeit, mit der die entwendeten Besitztümer oder vermisste und flüchtige Personen anhand ihrer Kleidung in den „Duisburger Intelligenz-Zetteln“ beschrieben werden; teils seitenlange Aufzählungen haben Fleischmann-Heck und Rudel studiert.

So erfährt man beispielsweise, dass 1773 beim Einbruch auf dem Hof der Eheleute Albert Siepekamp in der Bauerschaft Bühl zahlreiche Gegenstände der Hofbesitzer gestohlen wurden. Aber auch die Magd hatte gleich mehrere Verluste zu beklagen: unter anderem eine Schürze, drei Hemdröcke aus Damast und französischem Leinen, sieben Schnupftücher, neun Hemden, neun Ober- und Untermützen und ein Halsband aus Samt und zwei Servietten. In einem anderen dokumentierten Fall aus dem Jahre 1743 ist zu lesen, dass der Schreiner Henricus Feld bei seiner Festnahme unter anderem einen himmelblauen Rock mit schwarzen Knöpfen trug, außerdem ein blaues Camisole, eine Hose mit simplen blauen Knöpfen und unter einem weiß-rot-gelb gestreiften Hemdrock bleichblaue, gestrickte Überstrümpfe, dazu einen grauen Überrock, ein lang herabhängendes Surtout und ein ostindisches Schnupftuch. Die Auswertungen der umfassenden Beschreibungen in den „Duisburger Intelligenz-Zetteln“ lassen nicht nur Rückschlüsse auf die Qualität der getragenen Kleidung und auf das Kleidungsverhalten der Bürger zu, sie zeigen vielmehr, welche Bedeutung und welchen Wert Textilien im 18. Jahrhundert für die Gesellschaft hatten.

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Verbundprojekt „PARVENUE – Bürgerlicher Aufstieg im Spiegel der Objektkultur im 18. Jahrhundert“ ist seit 2018 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der Hochschule Fresenius Berlin/AMD Fachbereich Design, dem Deutschen Textilmuseum Krefeld, dem Museum Burg Linn und dem Hetjens – Deutsches Keramikmuseum angesiedelt. Seitdem hat es sich der bisher wenig erforschten Kunst und materiellen Kultur im 18. Jahrhundert als Instrument der Identitätsstiftung und Selbstvergewisserung gewidmet – dies mit einem dezidierten Blick auf soziale Aufsteiger, sogenannte Parvenüs. In einer dreiteiligen, unter anderem von der Kulturstiftung der Länder geförderten Abschlussausstellung in Krefeld und Düsseldorf werden nun die Ergebnisse des Forschungsprojekts präsentiert. Das Hetjens – Deutsches Keramikmuseum in Düsseldorf zeigt mit Exponaten aus eigenem Bestand in „Tafelzauber – Gesellschaft­licher Aufstieg und bürgerliche Esskultur im 18. Jahrhundert“, inwiefern sich sozialer Aufstieg in repräsentativer Esskultur widerspiegelt. Unter dem Titel „Prestigesache – Bürgerlicher Kleiderluxus im 18. Jahrhundert“ legt das Textilmuseum in Krefeld seinen Fokus auf seidene Kleidungsstücke, Gewebe und Accessoires des 18. Jahrhunderts aus der eigenen, rund 900 Objekte umfassenden Sammlung, die im Hinblick auf Aufstiegsbiografien, Selbstrepräsentation und Geschmacksbildung untersucht wurden. Das Museum Burg Linn wiederum widmet sich mit „Krefeld und seine Parvenüs – Eine Stadt erfindet sich neu“ der Komplexität und Ambivalenz des Phänomens am konkreten Beispiel der Seidenverlegerfamilie von der Leyen: Was ist das Rezept eines erfolgreichen gesellschaftlichen Aufstiegs? Wieso galt „der Parvenü“ in vergangenen Zeiten oft als Emporkömmling, warum werden gesellschaftliche Aufsteiger auch heute noch besonders kritisch beobachtet und beurteilt?

Stehen die drei Teilausstellungen jede für sich, so zeigen sie doch, dass die verschiedenen Themenbereiche eng miteinander verflochten sind und nicht nur kunst-, kultur- und gesellschaftshistorische, sondern ebenso wichtige regionalhistorische Aspekte behandeln. Die Seidenherstellung am Niederrhein verhalf der Stadt Krefeld und ihrem Umland zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Blüte. Internationale Handelsbeziehungen und Warenströme bis nach Asien prägten die regionale Textilproduktion. Der im Museum Burg Linn skizzierte Kosmos rund um die Krefelder Aufsteigerfamilie von der Leyen steht exemplarisch für jene Zeit. Nachdem Mitglieder der Familie als mennonitische Glaubensflüchtlinge gegen Ende des 17. Jahrhunderts nach Krefeld gekommen waren, stiegen die Brüder Heinrich und Friedrich in den folgenden Jahrzehnten an die Spitze der Krefelder Gesellschaft auf. Die Wohn- und Geschäftsbauten der Familie gehörten zu den größten und vornehmsten Häusern Krefelds, ausgestattet mit Stuckaturen, Gemälden, Porzellan, Spiegeln, Tapisserien und Roentgen-Möbeln.

Der Blick auf die Parvenüs des 18. Jahrhunderts und ihre materielle Kultur ist daher so interessant wie aufschlussreich, da die bürgerliche Schicht ab 1700 von der wachsenden Dynamisierung profitierte und sich in der Gesellschaft in Folge der Aufklärung neue Aufstiegschancen boten. Sogenannte Blitzkarrieren gab es in verschiedensten beruflichen Bereichen – in der Politik und Verwaltung ebenso wie in der Wirtschaft oder Kunst. Kleidung, Schmuck, Bauten, Möbel, Porzellane, Kunst und andere Dinge materieller Kultur wurden dabei als Vehikel für Karrierestrategien genutzt und verstanden.

Dies veranschaulicht das Hetjens – Deutsches Keramik­museum unter anderem am Beispiel der Aufsteigerbiografie des Augsburger Chemikers Johann Caspar Schau (1681–1761), der die Erfindung seines Großvaters – ein Kräuterbalsam, der zur Heilung bei inneren Krankheiten und äußeren Verletzungen verwendet wurde – weiterentwickelte und dadurch nicht nur ein Vermögen anhäufte, sondern darüber hinaus international bekannt und vernetzt war. In Folge dessen unterhielt er eine ­Fayencemanufaktur in Augsburg. Ob er sie auch gründete, ist unklar – entscheidend ist, dass sich Schau damit in bester Gesellschaft wähnte: Eine eigene Manufaktur zu unterhalten, war ein eleganter und beliebter Zug adliger Herrscher, um Macht zu demonstrieren. Doch auch mit seinem prächtig angelegten Garten machte Schau deutlich, dass er über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügte und zur oberen Klasse gehörte – ein Bestreben, das sich auch heute allerorts beobachten lässt und den Markt für Luxusartikel wie Uhren, Designer-Handtaschen oder Immobilien in die Höhe treibt.

Doch nicht nur der Besitz allein, auch die Inszenierung der Gegenstände und der Habitus spielen bei der Abgrenzung und Distinktion eine wichtige Rolle. Die vermögenden Parvenüs im Europa des 18. Jahrhunderts verfügten über teure Seidentapeten und exotische Hölzer, man verzehrte Zitrusfrüchte, die einen weiten Weg hinter sich gelegt hatten, trank Tee und Kaffee aus kostbarstem Porzellan – für die meisten Bürger damals ein unerschwingliches Vergnügen und bis dahin nur bei Adligen vorstellbar. Doch bei all dem, auf den ersten Blick vergnüglichen Luxus sollte der historische Kontext nicht außer Acht gelassen werden: So profitierte die gesellschaftliche Elite des 18. Jahrhunderts mit ihren Aufsteigern ganz konkret von der Kolonialisierung und der Ausbeutung des Sklavenhandels.

Die Verbindung von Kolonialismus und europäischer Festkultur thematisiert das Hetjens exemplarisch anhand von Entwürfen, die für den Parvenü und Sklavenhändler Heinrich Carl von Schimmelmann zur standesgemäßen Ausstattung des Speisesaals seines Herrenhauses in Hamburg 1767–1768 gefertigt wurden. Der norddeutsche Kaufmann stieg in wenigen Jahren vom Sohn eines kleinstädtischen Ratsherrn und Händlers zum Finanzminister des dänischen Königs auf. Ungeachtet furchtbarer Arbeits- und Lebensbedingungen der Betroffenen vergrößerte er sein Vermögen als Plantagenbesitzer auf den westindischen Inseln, als Sklavenhändler und Großaktionär von Handelsgesellschaften, die in Baumwoll-, Zuckerrohr-, Rum- und Waffenhandel involviert waren. Doch musste sich Schimmelmann als Parvenü durchaus behaupten; auf seinem Weg in die höhere Gesellschaft stieß er immer wieder auf Ressentiments der alteingesessenen Eliten.

Dass Emporkömmlinge über kein Stilbewusstsein verfügen, ist ein Vorurteil, das sich schon seit Jahrhunderten hält, und das bis heute: Seien es Social-Media-Stars, denen weitläufig unterstellt wird, zu ihrem Reichtum gekommen zu sein, ohne wirklich dafür gearbeitet zu haben, oder Fußballer, die mit ihrem Geld nicht umgehen können. Erst jüngst konnte man auf den sozialen Plattformen TikTok und Instagram einen Trend unter dem Hashtag #oldmoneyaesthetics beobachten, der die vermeintliche Kleidung, den Habitus und die Ästhetik des sogenannten Alten Geldes romantisierte – dies natürlich in Abgrenzung zum als aufdringlich geltenden Kleidungsverhalten derjenigen, die in erster Generation zu Geld gekommen sind. Von Faltenröcken, Tweedjacken und Polohemden über Kaschmir, Seide und Wolle bis hin zur zurückhaltenden Eleganz der Farbwahl: So kritisch dieser Trend auch zu sehen ist – funktioniert er vor allem mittels Ausschluss und fußt auf der Sichtweise einer privilegierten, alles andere als diversen Gesellschaftsschicht –, so offenbart er am Ende vor allem das Bedürfnis, sich einerseits abzugrenzen und gleichzeitig zu einer anderen, vermeintlich besseren Gruppe dazuzugehören. Doch während der Ausdruck „vom Tellerwäscher zum Millionär“ als Sinnbild für Fleiß und Ehrgeiz verstanden wird, gelten Parvenüs dabei eher als Nachahmer und Eindringlinge.

Wie das Deutsche Textilmuseum in der Abschlusspublikation der vierjährigen Forschungsphase und in der Ausstellung anhand zahlreicher Beispiele belegt, nimmt die Imitation in der materiellen Kultur und somit auch in der Mode des 18. Jahrhunderts zwar durchaus eine wichtige Rolle ein, doch lässt sich der Typus des Parvenüs nicht auf die reine Nachahmung reduzieren. So schreibt Philipp Zitzlsperger, Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte, in der Abschlusspublikation des Forschungsprojekts zum Thema „Imitatio oder innovatio“: „Wer den sozialen Aufstieg versucht, muss die Anpassung ebenso beherrschen, wie er sie durch die richtige Dosierung der Distinktion zu überbieten hat.“ Gerade durch seine Unangepasstheit und Innovation war der Parvenü, so Zitzlsperger, in der Lage, soziales Kapital schneller anzuhäufen.

Das Verbundprojekt zum bürgerlichen Aufstieg im Spiegel der Objektkultur schafft es, mit so manchem Vorurteil gegenüber gesellschaftlichen Aufsteigern aufzuräumen und dem Parvenü des 18. Jahrhunderts das Prädikat eines Lebenskünstlers, Neugestalters und Erfinders zu attestieren. Das Museum Burg Linn, das Hetjens-Museum und das Deutsche Textilmuseum Krefeld überzeugen mit ihren jeweiligen vielseitigen Exponaten und konfrontieren ihre Besucher mit einem durch die Parvenüs des 18. Jahrhunderts beflügelten, eindrucksvollen Innovationspotenzial, das sich durch alle Bereiche der materiellen Kultur zieht.

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