Als die Götter nach Kassel kamen

Die „Wiedergeburt der Antike“ ist ein zentrales künstlerisches Projekt der frühen Neuzeit, durchgeführt in unzähligen Künstlerateliers, immer neu erprobt auf der Basis antiker Funde und der Lektüre antiker Schriften. Besonders Ovids „Metamorphosen“ waren eine schier unerschöpfliche Quelle für die  bildenden  Künste  Westeuropas; seine Verarbeitung der griechischen und römischen Mythologie beflügelte die Phantasie von Künstlern und Auftraggebern gleichermaßen. Im 1722 –28 errichteten Marmorbad an der Orangerie der Karlsaue in Kassel scheinen die Götter und mythologischen Figuren sich unter den Menschen ein Stelldichein zu geben: Fast lebensgroß sind die freistehenden Marmorskulpturen auf ihren Sockeln, während acht große Relieffelder, ebenfalls aus weißem Marmor, wie Fenster in die Welt der Göttinnen und Nymphen wirken. Vor farbig inkrustierten Marmorwänden, durch eine aus dem schlichten kubischen Außenbau nicht zu erratende, raffinierte Rauminszenierung, wandelt man nicht durch eine Skulp­turengalerie, sondern einen Hain der Götter und mythologischen Geschöpfe. Nur die auf gegenüberliegenden Wänden mit allegorischem Figurenschmuck inszenierten Porträtmedaillons des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel (1654 –  1730) und seiner Gemahlin Marie Amalie von Kurland (1653 –1711) erinnern daran, dass sich die Entstehung dieses einzigartigen Raumkunstwerks einem fürstlichen Auftraggeber verdankt. Für den Künstler, der für den Gesamtentwurf dieses Prunkbades von der Architektur über die Innenausstattung bis zum Skulpturenschmuck verantwortlich zeichnete, muss es der Auftrag seines Lebens gewesen sein – Krönung seines Schaffens und ein Werk, das einen großen Teil seines Lebens in Anspruch nahm.

Pierre Étienne Monnot (1657 – 1733), aus der Nähe von Besançon gebürtig und seit 1687 in Rom ansässig, scheint sich bereits seit mindestens 1692 mit dem ehrgeizigen Projekt einer großen Gruppe mythologischer Figuren beschäftigt zu haben. Doch erst im Januar 1715 besiegelte ein Vertrag mit dem Landgrafen ein Vorhaben, dessen Ergebnis eines der bedeutendsten Raumkunstwerke des römischen Barock nördlich der Alpen war. Was geschah in der Zwischenzeit? Der aktuelle Forschungsstand lässt hier Raum für Spekulationen – und für weitere Recherchen. Denn dass ein Künstler – selbst ein so erfolgreicher und wohlhabender Künstler wie Monnot mit einem großen Atelier in der Via delle Carrozze mit zahlreichen Schülern und Mitarbeitern – eine solche Arbeit ohne Auftrag und Anlass in Angriff nahm, mag man bezweifeln. Unbekannt ist auch, unter welchen Bedingungen sich Künstler und Auftraggeber kennenlernten und wie Monnot nach Kassel kam. Die Antworten liegen möglicherweise in den römischen Archiven und in dem dichten Geflecht von Kirchenfürsten, Privatsammlern und internationalen Besuchern in Rom um 1700.

Kassel war zu dieser Zeit eine Art „Dauerbaustelle“, erfüllte sich doch der seit 1677 herrschende Landgraf Karl mit der Anlage von gleich zwei Gartenan­lagen – der Karlsaue und dem damals Karlsberg genannten Bergpark und der Wilhelmshöhe – den Wunsch nach angemessener Repräsentation. Karls Gartenleidenschaft wurde entscheidend durch seine Reisen befördert, vor allem durch die 1699/1700 mit einiger Ver­spätung angetretene Kavalierstour nach Italien. Der Begleiter des Landgrafen, Johann Balthasar Klaute (1653 –1733), beschreibt in seinem erstmals 1722 publizierten Reisebericht „Diarium italicum“ ausführlich die Stationen ihrer nur viermonatigen tour d’horizon, die sie natürlich auch nach Rom führte. Klautes Bericht schweigt sich darüber aus, ob und wie der Landgraf bei seinem Aufenthalt in der „ewigen Stadt“ die Bekanntschaft der beiden Künstler machte, die für seine ambitionierten Bauprojekte von entscheidender Bedeutung sein würden: Der  Architekt  Giovanni  Francesco Guerniero (ca. 1655 –1745), Schöpfer der Wilhelmshöher Anlagen, der Kaskade und des Herkules-Monuments, und eben Pierre Étienne Monnot, der Schöpfer des Marmorbades. Der englische Historiker Francis Haskell hat die künstlerische „Italianisierung Europas“ beschrieben, welche seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert bei nachlassender Auftragslage in Rom und Venedig dazu führte, dass die Künstler ihre Gönner vermehrt in den deutschen Fürstentümern fanden. Auch Pierre Étienne Monnot mag durch den Tod seines bis dahin wichtigsten Mäzens veranlasst worden sein, sein Glück im Norden zu suchen: Livio Odescalchi (1652 –1713), Neffe des Papstes Innozenz XI., war 1713 gestorben. (Abb. S. 6) Monnot fertigte 1695 sein heute im Louvre befindliches Porträtmedaillon an und er verdankte Odescalchi unter anderem den Auftrag zur Mitarbeit am Grabmal Innozenz’ im Petersdom (1697 bis 1704). Im August 1700 hatte Monnot einen anderen wichtigen Auftraggeber verloren, der zeitgleich mit dem hessischen Landgrafen im Winter desselben Jahres in Rom weilte: John Cecil, der fünfte Earl of Exeter. Anlässlich dieses Romaufenthalts orderte der Graf neben Porträtbüsten von sich und seiner Gemahlin, die sich bis heute im Landsitz der Familie befinden, bei Monnot auch sein Grabmonument. Auch zwei weitere bedeutende Aufträge für Kirchen und Papstdenk­mäler, an denen Monnot zu Beginn des 18. Jahrhunderts arbeitete, waren bis etwa 1713 abge­schlossen.

Pierre Étienne Monnot, Landgraf Karl von Hessen-Kassel, 1714, 84 × 81 × 44 cm; Museumslandschaft Hessen Kassel © Museumslandschaft Hessen Kassel / Foto: Arno Hensmanns
Pierre Étienne Monnot, Landgraf Karl von Hessen-Kassel, 1714, 84 × 81 × 44 cm; Museumslandschaft Hessen Kassel © Museumslandschaft Hessen Kassel / Foto: Arno Hensmanns

1714 ist ein Paar Bildnisbüsten datiert, die den Landgrafen Karl und die Landgräfin im Modus des barocken Herrscherporträts zeigen, wie es Giovanni Lorenzo Bernini 1665 mit seinem Porträt Ludwigs XIV. etabliert hatte. Damit war der Kontakt von Künstler und Auftraggeber dokumentiert, Monnot hatte den Beleg seiner Fähigkeiten geliefert. 1722, als die Bauarbeiten für das Marmorbad begannen, befanden sich bereits zehn der späteren zwölf Skulpturen in Kassel – ein Hinweis auf die komplexe Logistik eines solchen Vorhabens. Denn während die Skulp­turen aus Rom nach Kassel transportiert wurden, entstanden die Reliefs der Seitenwände wohl in Monnots Werkstatt in Kassel. Wie aber verständigten sich Künstler und Auftraggeber und der Künstler und seine Werkstatt über die Entwürfe? In der Kasseler Sammlung haben sich die Belege zur Entstehung des Marmorbades in ungewöhnlicher Dichte erhalten, so etwa die acht Wachsmodelle der Wand­reliefs, die dem Landgrafen vorgelegt wurden und exakt den später ausgeführten Stand des Entwurfs abbilden. Sensationell aber war 2013 die Nachricht, dass die Terrakottamodelle für zwei Figuren im Marmorbad zum Verkauf standen: „Paris“ und die tanzende „Bacchantin“. Bisher unpubliziert, handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um zwei im Nachlassinventar des Künstlers aufgeführte Modelle, die einen später veränderten Zwischenstand der Figuren dokumentieren. Über ihre dokumentarische Bedeutung hinaus sind die über sechzig Zentimeter hohen, vergoldeten Figuren zum einen eine absolute Rarität. Zum anderen besticht ihr ästhetischer Reiz, führen sie doch in noch stärkerem Maße als die ausgeführten Marmorfiguren die sinnliche Eleganz von Monnots fast androgyn wirkendem Körperideal vor Augen, für das die Forschung das schöne Wort vom „Proto-Rokoko“ gefunden hat. Von der Antike wie von seinen römischen Zeitgenossen gleichermaßen inspiriert, lieferte Monnot in Kassel sein Meisterstück ab: Ovids Metamorphosen als höfisches Spiel mit lebendig bewegten Figuren in einem einzigartigen Raum­ensemble. Für die Museumslandschaft Hessen Kassel (MHK) ist der Ankauf von „Paris“ und „Bacchantin“ mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder ein hochbedeutender Sammlungszugewinn. Ab November 2016 werden „Paris“ und die „Bacchantin“ nach Abschluss der Sanierungsmaßnahmen im wieder eröffneten Hessischen Landesmuseum Kassel zu sehen sein und zusammen mit anderen Exponaten die Entstehungsgeschichte des Marmorbades veranschaulichen.

Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Land Hessen, Hessische Kulturstiftung, Ernst von Siemens Kunststiftung