Allegorie und Material
Am 17. Oktober 1806 packte Johann Friedrich Ferdinand Emperius (1759 –1822), der Direktor des Herzoglich Braunschweigischen Museums, voller Hast „von Mittags 12 bis Abends um 6 Uhr“ sein Museum ein. Besser gesagt, er packte ein, was kostbar, kleinformatig und leicht transportabel war, unter anderem „Pretiosen von Edelsteinen, Gold, Silber, Bronze und Elfenbein“, nach seiner Berechnung Objekte im Wert von etwa 200.000 Reichstalern, und schickte sie gut verpackt „in der nächsten Nacht aus der Stadt“. Am selben Tag hatte man in Braunschweig von der schweren Verwundung Karl Wilhelm Ferdinands von Braunschweig-Wolfenbüttel (1735 –1806) am 14. Oktober in der Schlacht bei Jena und Auerstedt erfahren. Der Fürst kehrte noch einmal zurück, bevor er am 25. Oktober nach Napoleons Weigerung, die Stadt als neutral anzuerkennen und ihn dort sterben zu lassen, endgültig floh. Am 10. November starb er im damals dänischen Ottensen westlich von Hamburg. Ebenfalls auf sicherem dänischen Gebiet befanden sich die in Braunschweig so eilig verpackten „Pretiosen“, und Emperius gibt in seinem 10 Jahre später verfassten Bericht „Ueber die Wegführung und Zurückkunft der Braunschweigischen Kunst- und Bücherschätze“ erleichtert Auskunft darüber, „daß diese kostbaren Effekten für das Land und die regierende Familie gerettet worden waren“. Diese Aussage erwies sich für die nächsten 201 Jahre als nur teilweise richtig. Denn so lange dauerte es, bis durch eine glückliche Mischung aus Hartnäckigkeit und dem Zusammentreffen günstiger Umstände zwei dieser Kostbarkeiten ins Land – und damit in museale Obhut – zurückkehrten.
Zu den „geflüchteten“ Kostbarkeiten gehörten zwei Elfenbeinskulpturen des kursächsischen Hofbildhauers Balthasar Permoser (1651–1732). Für Emperius müssen sie zu denjenigen Objekten gezählt haben, die unverzüglich zu retten waren, doch in seiner Eile unterlief ihm wohl ein Fehler: Er trennte ein bedeutendes Ensemble, zu dem nicht zwei, sondern eigentlich vier Figuren gehörten. Permoser hatte einen allegorischen Zyklus konzipiert, bestehend aus Personifikationen der Jahreszeiten: vier in virtuoser Bewegtheit gezeigte Figuren, in ihren Bewegungen kontrastierend aufeinander bezogen und mit höchstem handwerklichen Geschick aus dem kostbaren, exotischen Werkstoff Elfenbein herausgearbeitet. Flora präsentiert ein Füllhorn, aus dem sich eine Kaskade von Blüten ergießt, während sich ein frecher Amorknabe an ihrem Gewandsaum zu schaffen macht; Ceres, in schwungvollem Kontrapost präsentiert, ignoriert ihren kindlichen Begleiter, der ihr Attribut – das Ährenbündel – heraufreicht. Die männlichen Protagonisten der Göttergruppe erscheinen in mehr oder weniger heroischer Nacktheit: Bacchus, vibrierend zwischen Stillstand und Bewegung, ist im Begriff in eine Traube zu beißen; der fröstelnde Winter, vermutlich der Gott Vulkan, versucht sich an den spärlichen Flammen zu seinen Füßen zu wärmen. Anhand des Jahreszeiten-Zyklus wird deutlich, wie der Bildhauer gleichermaßen virtuos die große wie die kleine Form bespielte: Permosers Kunst unterscheidet nicht zwischen bedeutenden großen und scheinbar dekorativen kleinen Formaten. Die Figuren sind, bei aller kleinteiliger Perfektion, monumental gesehen und so wirkungsvoll wie großformatige Skulpturen.
Dass Balthasar Permoser das Jahreszeiten-Thema zwischen 1690 und 1700 gleich dreimal in Elfenbein ausarbeitete, zeugt, wie es Jutta Kappel in ihrem gewichtigen Bestandskatalog der „Elfenbeinkunst im Grünen Gewölbe in Dresden“ (2017) erläutert, von seiner spezifischen Arbeitsweise, ein Thema durch Wiederholung, Bearbeitung und Variation weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen. So entstand wohl zwischen 1698 und 1699 ein zweiter Jahreszeiten-Zyklus, der seit 1725 in den Dresdener Inventaren nachgewiesen ist; eine weitere, heute verschollene Folge befand sich in einer Florentiner Sammlung.
Es ist zwar nicht bekannt, woher Balthasar Permoser das Elfenbein für seine Werkstatt bezog. Doch die Materialeigenschaften und die Herkunft des „weißen Goldes“ gehören untrennbar zu unserem Verständnis der Elfenbeinkunst. Im Deutschen gab das Tier dem Material seinen Namen: Von lateinisch „elephantus“ und althochdeutsch „helfant“ leitet sich der Begriff ab, der in älteren Quellen zuweilen auch als „Helffenbein“ erscheint. Seine Härte und Glätte, kombiniert mit einem relativ hohen Eigengewicht und der leuchtend-weißen Farbigkeit ließen es zu einem gesuchten Rohstoff für geschnitzte und gedrechselte Kostbarkeiten werden.
Dabei gibt die Form des Stoßzahns den Objekten ihre Form vor, sie umschreibt die Dinge wie eine unsichtbare Wand. In Richtung Spitze – so erklärt Kappel – wird das Material immer dichter, bis es im vorderen Drittel schließlich massiv ist, nach oben weitet es sich und ist hohl. Im Ergebnis sieht man den vollrunden Statuetten oder Figurengruppen oder den Humpen, Pokalen und Reliefplatten (die zudem zuweilen leicht gewölbt sind) noch an, aus welchem Teil des Zahns sie bestehen, die Erinnerung an den organischen Ursprung des Materials tragen sie in sich. Dass die europäischen Höfe der frühen Neuzeit unbearbeitetes Elfenbein in erheblichen Mengen erwarben, ist überliefert, und es ist zu vermuten, dass Permosers Material – etwa über arabische und venezianische Zwischenhändler oder über eine der großen Handelskompanien – seinen Weg auf die Leipziger Messen fand.
Offen bleibt, ob Permosers Figurengruppe ein diplomatisches Geschenk des sächsischen Hofes an Herzog Anton Ulrich war, etwa anlässlich des Besuchs im Jahre 1695, oder ob er sie selbst in Auftrag gegeben oder erworben hatte. Regine Marth, Oberkustodin am Herzog Anton Ulrich-Museum und Kennerin der dichten archivalischen Überlieferung zu den Figuren, wird weitere Erkenntnisse publizieren, bisher bekannt sind die erste schriftliche Erwähnung der Jahreszeiten im Jahr 1722. Zu Jahrhundertende verzeichnet das Inventar des Herzoglich Braunschweigischen Museums von 1798 die Figuren unter den weit auseinanderliegenden Inventarnummern 162 (Herbst), 163 (Winter), 207 (Frühling) und 490 (Sommer). Die Vermutung liegt nahe, dass die Elfenbeine somit auch räumlich getrennt waren. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand ahnen, dass die Aufstellung an unterschiedlichen Standorten wenige Jahre später zu einer zweihundertjährigen Trennung der Figurengruppe führen würde. Jens Ludwig Burk, Kustos am Bayerischen Nationalmuseum, hat eine plausible Erklärung für die – zunächst zufällig wirkende – Neuaufstellung vorgeschlagen. Vermutlich stand sie in direktem Zusammenhang mit einer wirtschaftspolitischen Initiative des nun regierenden braunschweigischen Herrschers, Karls I. (1713 –1780). Er gründete 1747 die bis heute bestehende Porzellanmanufaktur Fürstenberg bei Holzminden. Und Balthasar Permosers „Jahreszeiten“ verwandelten sich im Zeitalter aufgeklärt-merkantilistischen Denkens von Kabinettstücken im Kontext barock-absolutistischer Hofkunst zu Vorbildern für Abformungen in Porzellan: Die Figur der Flora wurde bereits 1757/58 entliehen und kopiert, Herbst und Winter folgten 1774, als der Fürstenberger Modelleur Anton Carl Luplau (1745 –1795) seine Version von Herbst und Winter produzierte, und 1778 bearbeitete man Frühling und Sommer noch einmal gemeinsam. Aus heutiger Perspektive ist diese Übersetzung von einem „weißen Gold“ zum anderen, vom organischen zum feinkeramischen Material faszinierend, wie das Symbol einer Zeitenwende. Für die Werke bleibt der Medientransfer nicht folgenlos: Die Porzellanfiguren unterscheiden sich in Größe und Feinheit der Ausführung von ihren Vorbildern. Zudem entwickelt die farbige Porzellanglasur ihre ganz eigene Ästhetik. Auffallend ist schließlich die Bandbreite der Möglichkeiten der Gattung Skulptur, unabhängig von Format und Medium, die von den Zeitgenossen geschätzt wurde.
In Braunschweig hütete Museumsdirektor Emperius die verbliebenen Kunstschätze während der „Franzosenzeit“ (1806 –1814) und bis zur Rückgabe der von Napoleons Kunstbeauftragten Dominique-Vivant Denon (1747–1825) nach Paris verbrachten Kunstwerke. Von Permosers Herbst und Winter hingegen verlor sich jede Spur. Erst 1931 konnten sie in der Sammlung einer bedeutenden englischen Adelsfamilie als die fehlenden Braunschweiger Stücke identifiziert werden. Danach vergingen noch einmal 85 Jahre, bis der Wunsch mehrerer Generationen von Museumsdirektoren in Erfüllung ging: Die Elfenbeinskulpturen kehrten pünktlich zur Wiedereröffnung des Herzog Anton Ulrich-Museums mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder nach Braunschweig zurück.
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Fritz Behrens-Stiftung, Ernst von Siemens Kunststiftung, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Rudolf-August Oetker-Stiftung