Flashes of the Future
Trotz 24 Stunden kollektiver Dauerperformance: Joseph Beuys kommt am nächsten Morgen zum Aufräumen. Die liegengelassenen rohen Fleischstücke in der Wuppertaler Galerie Parnass stinken bereits in der sommerlichen Hitze des Juni 1965, sie werden im Garten vergraben. Lungenteile und Speiseröhren von Tierkadavern waren vom Künstler Wolf Vostell und von Zuschauern mit Nadeln traktiert worden. An der Wand stapelten sich Kisten, die an KZ-Barracken erinnerten, in ihnen lagen Männer und Frauen gefesselt. Joseph Beuys absolvierte währenddessen auf einer Apfelsinenkiste ein enigmatisches Programm mit verschiedenen elektrischen Geräten und Objekten aus Fett. An diesem Höhepunkt der performativen Kunst der 1960er-Jahre in Deutschland nahmen u. a. auch Bazon Brock, Charlotte Moorman und Nam June Paik teil. Unter der Überschrift „Folgen der Notstandsgesetze“ gaben die Künstlerinnen und Künstler in der Begleitbroschüre Mitmachanweisungen für die Zuschauer. Mit ihrer Performance attackierten sie die Pläne der Bundesregierung, die Macht der Exekutive gefährlich zu erweitern. Erinnerungen wurden wach an die Notverordnungen, durch die Hitler alle Macht auf sich vereint hatte. Drei Jahre später, unter dem Eindruck der Studentenunruhen von 1968, verabschiedete der Bundestag unter deutschlandweiten Protesten die Gesetzesänderungen.
Das Eintreten gegen autoritäre Strukturen, für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen, gegen den Vietnamkrieg, für die sexuelle Befreiung – das hätte die Künstler und die 68er-Aktivisten damals verbinden können. Doch insbesondere in Deutschland wollten sie erstaunlicherweise nicht gemeinsame Sache machen. Das Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen untersucht jetzt das Verhältnis von Gesellschaft und Künstlern zur Zeit der Rebellion und breitet das ganze Panorama künstlerisch-kritischer Positionen der 1950er- und 1960er-Jahre aus. „Flashes of the Future“ reist einmal um den Globus und demonstriert eindrucksvoll, wie sich Künstler gegen das Schweigen der Väter, gegen atomare Aufrüstung, gegen rassistische Tendenzen, gegen Medienmanipulation, gegen neue Kriege wendeten. „Ein Blick durch die Kunst auf 68“, nennt das einer der beiden Kuratoren und Direktor des Ludwig Forums, Andreas Beitin. „Wir wollen zeigen, wie frühzeitig die Kunst manche Themen aufgegriffen hat, die von der Gesellschaft noch vernachlässigt oder sogar tabuisiert waren“, fasst er die von ihm und Co-Kurator Eckhart Gillen konzipierte Schau zusammen. Geografische und inhaltliche Cluster verschränken sich, die Exponate und Materialien stammen aus beiden Teilen Deutschlands, aus Frankreich, Osteuropa oder den USA. Der Protest war global, seine lokale Ausprägung sehr unterschiedlich. Die Ausstellung blickt mit erstmals gezeigten Fotografien von Gisèle Freund in die damalige Tschechoslowakei, wo gesellschaftskritische Stimmen aus der Literaturszene den Umbruch einläuteten, ein Interviewfilm fragt den japanischen Ex-Terroristen Masao Adachi nach seinen Motiven. Der französische Maler Jean-Jacques Lebel, der im Interview mit den Kuratoren den Ausstellungstitel „Flashes of the Future“ prägte, hat sein reiches Archiv geöffnet und Plakate und Collagen zur 68er-Bewegung im Nachbarland beigesteuert, wo Künstler und Protestler an einem Strang zogen. Eine mit der Bundeszentrale für politische Bildung konzipierte, 600 Seiten starke Begleitpublikation erweitert den Blick in Interviews und Texten von Zeitzeugen in persönliche, politische und theoretische Dimensionen. Das Ludwig Forum vertieft die künstlerische Bestandsaufnahme mit Lesungen, Diskussionen und Filmvorführungen.
Viele Künstler der Nachkriegszeit verabscheuten das Museale, das Selbstreflexive in der zeitgenössischen Kunst und wollten sich mit teils drastischen Mitteln politisch und gesellschaftlich einmischen. Macht kaputt, was euch kaputtmacht – das Motto der 68er kündigte sich schon in der Kunst deutlich vor 1968 an. Es herrscht muntere Dekonstruktion statt Abstraktion: Da wird verwischt, verzerrt, gebohrt, zerschlagen, zerrissen, geschossen, durchbrochen, gestochen, geschnitten und zerstört. Um dann alles mit gefundenem Material wieder neu zu kombinieren. Diese Kunst sieht anders aus als die in Aachen in der eigenen Sammlung präsente, zeitgleiche Pop-Art, die grellbunt ihre Konsumkritik formuliert. Martialischer, unansehnlicher kommt die neue Kunst beispielsweise in Deutschland und Österreich daher. Die Kunstaktionen und neuartigen Objekte verweigern sich einer Vermarktung, eine klare Absage an den prosperierenden Kunsthandel. Die jungen Künstler entdeckten, auch durch Begegnungen mit den Urvätern und -müttern der Avantgarde, die Konzepte von Bauhaus, der Dadaisten und Surrealisten wieder. „Lebensprozesse durch Kunstprozesse zu verstärken“, nannte das der gelernte Fotolithograf und Fluxus-Pionier Wolf Vostell, der als einer der ersten deutschen Künstler den Faschismus thematisiert. Mehr als die Pop-Art habe ihn der Dadaismus mit seiner ironischen Brechung und dem Einsatz alltäglicher Materialien beeinflusst. Jürgen Habermas’ Warnung, ohne klare Grenze zwischen Kunst und Leben gebe es keine Kunst mehr, schlugen die Protagonisten der Happenings aktionistisch in den Wind. Kunst könne nur über den Umweg des Denkens und der Wahrnehmung des Betrachters etwas bewirken, lautete ihr Credo. Beuys mit Fett, Filz und toten Hasen, Wolf Vostell mit Stacheldraht, TV-Geräten, Abfall und Fleisch – mit ungewöhnlichen Mitteln wollten die Künstler „eine völlige Erneuerung der Sensibilität“ (Wolf Vostell) erreichen. Aufwendig filmisch dokumentiert, ist Beuys in Aachen in rituell zelebrierten Kunstaktionen zu beobachten.
Doch die revoltierenden Studenten von 1968 und die Kunstrevoluzzer mit ihren Teach-ins und provokanten Aktionen – das ergab keine glückliche Gemeinschaft, obwohl beide Gruppen die Welt verändern wollten. Beuys beispielsweise lehnte die aus seiner Sicht verbohrte Ideologie der Rebellen ab. Die verabscheuten wiederum Kunst generell als bourgeoise Einrichtung. Schon beim Festival der Neuen Kunst an der Universität in Aachen 1964 kam es unter den Studentinnen und Studenten zu Tumulten, nachdem Wolf Vostell u. a. symbolisch Exekutionen im Warschauer Ghetto nachstellte. In West-Berlin verhinderten Studenten später ein Konzert von Beuys und geißelten den „asozialen“ Kunstbegriff der Fluxus-Künstler.
Doch auch im traditionellen Format wurde die Kunst neu definiert: 1963 schockte der noch unbekannte Georg Baselitz die Bundesrepublik mit seinem Gemälde „Die große Nacht im Eimer“, das mit anderen Bildern von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wurde. Erst nachdem eine Anklage aufgrund unzüchtiger Darstellungen scheiterte, bekam der Künstler seine Werke zurück. In Aachen ist als Leihgabe aus Privatbesitz eine Variante des Skandalbilds zu sehen: Der dargestellte Junge, der die braunen Hosen der Hitlerjugend trägt und seinen großen Penis umklammert, ist körperlich entstellt und steht gebeugt. Der albtraumhaften Gewalt des Holocaust entstiegen, scheint sich in Baselitz’ Bild die unverarbeitete Schuld der Nazi-Väter auf ihre bis zur Unkenntlichkeit versehrten Kinder zu übertragen.
Erschütternde Assemblagen gestaltete in den USA Boris Lurie, der Anfang der 1960er-Jahre aus Magazinen ausgeschnittene, softpornografische Fotografien mit Aufnahmen aus Konzentrationslagern verschränkte, um u. a. den Zynismus und die Verrohung der amerikanischen Gesellschaft anzuprangern. Seine Werke zeigte er auf verschmutzten, abgestoßenen Leinwänden und verweigerte sich damit auch einer zunehmenden Kommerzialisierung der Kunst. Luries Großmutter, seine Mutter, seine Schwester und seine Geliebte waren im Holocaust vor seinen Augen ermordet worden, er selbst hatte die Internierung in verschiedenen Lagern überlebt. Erst vierzehn Jahre später begann für ihn die künstlerische Aufarbeitung der erlebten Gräuel. Die USA, wohin Lurie emigriert war, führten da bereits – wenige Jahre nach dem Weltenbrand – einen menschenverachtenden Krieg in Vietnam, der weltweit zunehmend für Entsetzen und Proteste sorgte. Diese Schrecken des weit entfernten Dschungelkriegs, den die Amerikaner zuhause sicher von der Couch aus im neuen Massenmedium Fernsehen verfolgten, holte die Künstlerin Martha Rosler in ihrer 20-teiligen Fotocollage ins traute Eigenheim. In „House Beautiful: Bringing the War Home“ irrt ein Vietnamese mit einem verletzten oder toten Kind durch das Treppenhaus eines Vorstadtbungalows. So bricht der Krieg unmittelbar ein in die saturierte amerikanische Idylle.
In Wien gingen die Aktionisten Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler noch einen Schritt weiter, bei ihnen wurde der eigene Körper zum Medium des künstlerischen Ausdrucks – mit allen Mitteln: Neben der exzessiven Selbstbemalung kamen Rasierklingen, Reißzwecken oder Nägel zum schmerzhaften Einsatz. Die gesellschaftliche Repression aufdecken, gegen die normierende Macht des Staates kämpfen, aber auch z. B. sexuelle Tabus schonungslos aufzeigen. „Der Staat will mich essen, rösten, schlecken, vögeln, einfrieren, auftauen, erfinden“, evozierte Günter Brus. In Aachen ist seine Aktion „Zerreißprobe“ zu sehen, die auch den heutigen Betrachter noch nachhaltig zu verstören vermag. Der wochenlange, landesweite Skandal war perfekt, als Brus 1968 an der Universität Wien bei der Aktion „Kunst und Revolution“ beim Absingen der Bundeshymne defäkierte. Da blieb dem Künstler nur noch die Flucht vor der Strafverfolgung nach Deutschland. Die Alpenrepublik stritt über die Freiheit der Kunst und über gesellschaftliche Normen.
Woanders wurde gesprengt und geschossen: Der Schweizer Jean Tinguely und die französisch-schweizerische Malerin Niki de Saint Phalle wurden der eigenen Kunst gefährlich. Während Tinguely 1960 seine Installation „Homage to New York“ am Ende mit Sprengstoff zerstörte, nahm Niki de Saint Phalle u. a. das herrschende Frauenbild aufs Korn: Mit Schießaktionen auf ihre Assemblagen durch Besucher wurde sie Anfang der 1960er-Jahre zum Enfant terrible der bildenden Kunst. Die Zuschauer machte sie zu Mittätern, bediente sich männlich konnotierter Gewalt. In Aachen ist eine „unbeschossen“ gebliebene Komposition zu sehen: Ein Miniaturbett zeigt eine Kinderpuppe, einen Spielzeugreiter neben einem Männerschuh und einem Hemdkragen – die Künstlerin thematisiert damit den als Kind erlittenen, lange verdrängten Missbrauch durch ihren eigenen Vater.
„Viele Themen, weswegen die Leute damals auf die Straße gingen, spielen auch heute eine große Rolle“, stellt Kurator Andreas Beitin fest. „Wir haben kriegerische Auseinandersetzungen, es gibt Präsidenten, die über die Entwicklung von Atombomben nachdenken, wir beklagen immer noch die Ungleichheit von Mann und Frau und müssen so dringend wie nie zuvor etwas gegen die Umweltzerstörung tun.“ Entschieden wendet er sich gegen jede Verunglimpfung der 68er-Bewegung: „Wir profitieren doch unübersehbar in unserer liberalen Gesellschaft heute von vielen Entwicklungen, die von den 68ern damals angestoßen wurden.“
Förderer dieser Ausstellung: Kulturstiftung der Länder, Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Peter und Irene Ludwig Stiftung, LVR – Qualität für Menschen