Abschied von der Rettungsphantasie
Als die Museen im 19. Jahrhundert entstanden, waren sie von der Vorstellung getragen, die Moderne bringe nicht nur Fortschritt, sondern auch Verfall und Verlust. Diesem müsse man etwas entgegensetzen: nämlich das Sammeln, Bewahren und Konservieren – und zwar weltweit. Die schnell ausgegebene Devise lautete: Retten, was noch zu retten sei. So entstand die neue Institution des Museums, die angefangen vom Heimat- über das Kunst- und Naturkunde- bis zum Völkerkundemuseum versprach, all das zu bewahren, was drohte verloren zu gehen. Gerade im Außereuropäischen, wo angeblich das Aussterben ganzer „Rassen“ zu beobachten sei, müsse schnell gehandelt werden. Hier allerdings konzentrierte man sich neben Tieren und Landschaften (der Ethnologe Augustin Krämer schlug bereits 1914 Palau als erstes Naturschutzgebiet vor) vor allem auf Artefakte. Da die einheimische Bevölkerung schon untergegangen sei oder zumindest kurz vor dem Aussterben stünde, war es zeitgenössisch nur folgerichtig, statt ihrer ihre Objekte zu „retten“. Mehrere Millionen dieser Ethnographica, Zoologica und Botanica wurden häufig auf mehr oder minder gewalthafte Art und Weise nach Europa und Nordamerika in die neu gegründeten Museen gebracht.
Die Museen des 19. Jahrhunderts wollten also „retten“ und verwundeten dabei nicht selten die Lebenswelten der Menschen gravierend – was freilich zumindest in Europa nicht wahrgenommen wurde. Hier verstand man sich vielmehr als „Retter“ und „Kulturbewahrer“. In Afrika, Ozeanien und Asien sah man das allerdings bereits im 19. Jahrhundert schon anders – wie etwa Berichte aus der westafrikanischen Presse zeigen, die die Plünderungen der Benin-Bronzen durch die Engländer 1897 als Unrecht geißelten.
120 Jahre nach den Plünderungen der Benin-Schätze, hundert Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft und über fünfzig Jahre nach dem Beginn der großen Dekolonisierungswelle, in deren Verlauf fast alle Staaten Afrikas, Asiens und Ozeaniens unabhängig geworden sind, geraten die einst „geretteten“ Objekte wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Immer neue Debatten entzünden sich an der Frage, was mit den Artefakten geschehen soll beziehungsweise wem sie eigentlich gehören. Nicht selten wird harsche, zuweilen auch deutlich überzogene Kritik an den Museen laut. Und doch eröffnet genau diese Kritik auch eine einmalige Chance: Die Chance, die eigene Geschichte neu zu entdecken oder doch zumindest vieles davon in einem anderen Licht zu sehen – in einem Licht, das deutlich macht, wie sehr europäische und außereuropäische Geschichte miteinander verbunden sind und welche zentrale Rolle hier die gemeinsame Kolonialgeschichte (auch, aber nicht nur, aufgrund ihrer folgenreichen Rettungsphantasien) spielt.
Kolonialgeschichte war und ist zentraler Bestandteil des europäischen wie aber auch des afrikanischen, ozeanischen, amerikanischen und asiatischen Erbes: Es ist eine geteilte Geschichte, und zwar seit Jahrhunderten – seitdem Sklavenschiffe von Liverpool nach Westafrika fuhren, um von dort im Laufe der Jahrhunderte rund 12 Millionen Menschen zu versklaven. Später wurden fast ganz Afrika, halb Asien und ganz Ozeanien zu Kolonien. Kolonialgeschichte ist also keine Minderheitengeschichte einiger weniger. Es ist eines der wichtigsten Kapitel der globalen Welt, das bis heute nachwirkt. Doch was genau heißt gemeinsame Geschichte, wenn wir von Kolonialismus sprechen? Kolonialismus ist eine Herrschaftsform, die von der rassisch begründeten Vorstellung getragen ist, Menschen weißer Hautfarbe seien hinsichtlich Zivilisation, Kultur und Fortschritt allen anderen überlegen. Diese Idee der Überlegenheit ging Hand in Hand mit dem von Rudyard Kipling heraufbeschworenen White Man’s Burden. Nämlich der vermeintlich zwingenden Pflicht, Menschen anderer Hautfarbe diese vermeintliche Zivilisation aufzudrängen und dadurch zu erlösen oder eben zu retten – ein ebenso selbstgefälliges wie zynisches Bild. Faktisch bedeutete Kolonialismus die Zerstörung ganzer Gesellschaften: Manchmal schleichend, etwa durch Krankheiten, durch die Zerstörung von Kultobjekten, durch die Neuordnung von Sprachen oder gleich durch Umsiedlungen, häufig jedoch auf einen Schlag, sei es in Kriegen wie dem Maji-Maji Aufstand oder dem Herero-Nama Völkermord.
Kolonialismus veränderte jedoch nicht nur das Außereuropäische. Kolonialismus veränderte auch Europa: Etwa indem auf Missionsfesten sogenannte Heidenchristen – gerne aus Afrika – gleich Trophäen so präsentiert wurden, dass die Überlegenheit des Christentums und somit Europas auch dem letzten Bauernkind im hintersten Winkel Niederbayerns verdeutlicht wurde. Kolonialismus schrieb sich aber auch in die Wissenschaft ein. Weite Teile der modernen Wissenschaft, etwa die Zoologie und Botanik genauso wie die Archäologie und Medizin, sind nur möglich gewesen, weil kolonialer Besitz – um es zynisch zu formulieren – maximale Nutzung von Raum und Menschen ermöglichte. Mittels medizinischer Experimente, anthropologischer Messungen an Menschen und dem Sammeln von Pflanzen wurde „Material“ gesammelt, das bis heute genutzt wird, um etwa die Geschichte des Klimawandels zu erforschen. Kolonialismus ermöglichte jedoch noch weit mehr, zum Beispiel Entwicklungen in der modernen Malerei. So verdanken die deutschen Expressionisten wie Emil Nolde und Ludwig Kirchner ihre wichtigsten Anregungen den Masken und Balken aus Afrika und Ozeanien, die sie in den ethnologischen Museen in Berlin und Dresden sahen und in die Formsprache ihrer Malerei integrierten.
All diese vielschichtigen Facetten einer gemeinsamen Geschichte gilt es zu entdecken. Und Museen spielen dabei eine zentrale Rolle. Freilich nur, wenn sie sich von den Rettungsphantasien des 19. Jahrhunderts verabschieden und, zusammen mit den Expertinnen und Experten der Herkunftsgesellschaften, den – zuweilen auch widersprüchlichen – Geschichten, die die Objekte in sich tragen, offensiv und radikal ergebnisoffen (insbesondere was die Restitution anbelangt) nachgehen. Das wäre freilich mehr als das, was man landläufig unter Provenienzforschung versteht. Es hieße, die Chance der gemeinsamen Entdeckung einer shared history zu nutzen, um neue Fragen an die Rolle von Museen zu stellen. Damit würden Museen die Debatten, die gerade erst anfangen, befruchten, ja vorantreiben, statt sie zu fürchten.