Romantik und Realismus

Herrn Blechens kühne, fruchtbare Phantasie im Ge­biet des Schauerlichen hat sich denn auch jetzt in seinen Landschaften meist überall vorteilhaft an den Tag gelegt, und er hat uns einige Landschaften geliefert, bei deren Anschauung uns ein Grausen erfaßt und ein kalter Schauer unsere Haut durchrieselt.“ Dies entnahmen die Zeitgenossen am 28. Oktober 1826 der Spenerschen Zeitung, deren Kunstkritiker die Berliner Akademieausstellung besucht hatte, in der auch neun Gemälde von Carl Blechen zu sehen waren. Ob das hier vorgestellte Bild dort ausgestellt war, lässt sich heute nicht sicher sagen, ist aber anzunehmen, wirkt doch die „Ruine“ wie eine Illustration des oben Gesagten und könnte mit dem Untertitel „Dämonie der Dunkelheit“ versehen werden.

Carl Blechen, Romantische Landschaft mit Ruine, um 1825, LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster
Carl Blechen, Romantische Landschaft mit Ruine, um 1825, LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster

Der Betrachter findet sich im Inneren eines verfallenen Gemäuers, in einem verschatteten, düsteren Raum, in dem der Blick mühsam tastend die Gegenstände erfasst. Steine und große Felsbrocken im grünlich-braunen Dämmerlicht versperren den Weg, der aus dem Höhlendunkel der Ruine zu einem Torbogen führt. Hier öffnet sich der Blick in einen blau-dämmrigen Abendhimmel, an dem schon Sterne und die scharfe Sichel des Mondes aufgezogen sind. Vor dem samtigen Blau hebt sich eine Burg als vielzinnige Silhouette gegen den Himmel ab. Dorthin zu gelangen, in die Helligkeit und die Geborgenheit schützender Mauern, wünscht sich jeder, der Blechens Bild „betritt“. Dies scheint unmöglich: Er wird aufgehalten und Zeuge einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen einem Mann und einer Frau – beide tragen spanische Hoftracht –, die sich im Mittelgrund unter dem großen Bogen abspielt. Das Unbehagen ob dieser Situation wandelt sich in Panik, wenn der Betrachter im Vordergrund die Schlange erblickt, die ihm mit aufgebäumtem Leib entgegenschnellt und endgültig seinen Schritt hemmt. Ihn trifft dabei der Blick einer Eule, deren glühende Augen ihn links aus einer Nische anstarren. Ein zweites Exemplar dieser Vögel, deren Lebensraum die Nacht ist, sitzt mit aufgestelltem Gefieder auf einem der Felsen und sendet seinen Blick als einen magischen Lichtstrahl auf das Paar.

Auch heute löst die hier ausgebreitete, rätselvolle Szenerie ein Gefühl von Unbehagen und Grausen im Betrachter aus. Wer war ihr Regisseur – wer war „Herr Blechen“? Carl Blechen war einer der talentiertesten Künstler des 19. Jahrhunderts, dessen Sensibilität und unkonventioneller Blick auf die Dinge vieles an späteren künstlerischen Entwicklungen bereits vorwegnahm. Er verband in seinem Werk die Stimmung und Motivwelt der Romantik mit einem spontan gehandhabten Kolorit, das in seiner Freiheit in der deutschen Kunst der Zeit singulär blieb. Die Anfänge waren prosaisch und glanzlos. Blechen wurde 1798 in Cottbus als Sohn eines bildungsbeflissenen Steuerbeamten geboren; aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten der Familie musste der Sohn das Lyzeum verlassen und absolvierte eine Banklehre, die im Anschluss zu einer Tätigkeit in einem Berliner Bankhaus führte. Dem nüchternen Broterwerb setzte Blechen seine künstlerischen Studien entgegen, die er bereits in Cottbus begonnen hatte und in Berlin in jeder freien Minute fortführte. Hier entstanden vor allem Zeichnungen, die einen frühen Förderer beeindruckten, der sich dafür einsetzte, dass der materiell kärglich gestellte Blechen in die 2. Zeichenklasse der Akademie aufgenommen wurde und gebührenfrei studieren durfte.

Nach der Zeichenklasse wechselte der Vierundzwanzigjährige in die Landschaftsklasse der Akademie. Diese „Grundausbildung“ in technischen Fertigkeiten vermittelte das Handwerkszeug für die Landschaft herkömmlicher Prägung, brachte aber den jungen Künstler in seiner Suche nach Unmittelbarkeit in der künstlerischen Naturerfahrung nicht viel weiter. Aus dieser Zeit datiert ein ungewöhnliches, skizzenhaftes Selbstbildnis, in dem sich der Maler demonstrativ im Freien zeigt, den Arm mit dem Kreidestift in der Hand auf einen Felsen stützend.

Blechens Experimentierlust und Spontaneität wurden durch den Berliner Akademiebetrieb nur unzureichend genährt – Befreiung und malerische Prägung brachte eine dreimonatige Reise nach Dresden im Jahr 1823. In Dresden hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Landschaftsmalerei ausgebildet, in der man der vor Ort entstandenen Naturstudie große Beachtung schenkte. Zugleich war sie geprägt durch das Landschaftsverständnis der Frühromantik, das in den Naturphänomenen die Offenbarung des Göttlichen aufgehoben sah. In den Gemälden Caspar David Friedrichs (1774–1840), der in jenen Jahren in Dresden lebte, fand sich diese von Symbolen und Zeichen durchzogene transzendierende Natursicht in nie zuvor gesehenen Landschaftsbildern verdichtet. Vieles von der Klarheit und Spiritualität seiner Bilder ist auch im Werk seiner künstlerischen Weggenossen Carl Gustav Carus (1789–1869) und Johan Christian Clausen Dahl (1788–1857) reflektiert. Carl Blechen, der Werke Friedrichs und Dahls von Ausstellungen kannte, wurde in Dresden in deren Haus- und Arbeitsgemeinschaft freundlich eingebunden, mit gleichgestimmten Künstlern bekanntgemacht und entdeckte die Umgebung Dresdens, die Sächsische Schweiz, mit den Augen der romantischen Maler. Sein Dresdner Erfahrungsschatz bündelt die Poesie und Spiritualität der Friedrichschen Kunst und die Wahrheit und Naturtreue des Dahlschen Realismus – er wird Blechens Schaffen bis zu seinem Ende in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen prägen. Die Schlagworte Romantik und Realismus, Poesie und Prosa sind hierbei die Trittsteine auf einem eigenbestimmten Weg.

Zurückgekehrt nach Berlin, kommt für Carl Blechen weder eine Rückkehr in den Brotberuf noch in die normierende Welt der Akademie in Frage. Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), Architekt, Maler, einflussreicher Mentor und ästhetische Instanz des Berliner Stadtraumes, vermittelt dem nun Sechsundzwanzigjährigen eine Stelle als Dekorations- und Bühnenmaler. Sie ist am neu eröffneten Königsstädtischen Theater in Berlin zu besetzen, eine aus dem Bürgertum heraus entstandene Institution, die sich selbstbewusst als Gegenpol zum Hoftheater etablierte. Schinkel schätzte Blechens Fantasie, sein Gefühl für Räumlichkeit und die Gabe, eine Bildidee rasch umzusetzen; Talente, die Blechen in seiner Zeit als Theatermaler in den Jahren 1824 bis 1827 sehr zugute kamen. Zur Aufführung gelangten Opern, Komödien und Melodramen, in denen nach dem Zeitgeschmack das Düstere, das Fantastische und die romantische Verklärung des Mittelalters eine große Rolle spielten. Blechen schuf etwa 100 Bühnenbilder für rund 30 Stücke, darunter ­Bühnenentwürfe mit Grabmälern, Gewölben, gotischen Ruinen und surrealistisch anmutenden, geheimnisvollen Gebirgslandschaften – die Heimat von Sagengestalten und Wald­wesen. Begleitend tauchte er auch privat ein in die dunkel getönte Literatur des romantischen Nordens, beschäftigte sich u. a. künstlerisch mit E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Die Elixiere des Teufels“ und mit den hier eingewobenen Motiven Vergänglichkeit, Dämonie, Verderbnis.

Vor diesem Hintergrund beginnt sich auch das Geheimnis unseres Bildes zu lüften, das ebenfalls in diesen Jahren entstand. Vordergründig ist die Szene in Mozarts Oper „Don Giovanni“ beheimatet und zeigt Donna Anna im Kampf mit Don Giovanni vor der Kulisse seines Schlosses. Die gespenstischen Tiere des Vordergrundes – sie symbolisieren zugleich Weisheit und Tod – verkörpern das Verderben, dem Don Giovanni entgegengeht. In seiner Komposition geht Blechen über die effektvoll-narrative Verarbeitung des literarischen Stoffes hinaus und nimmt eine symbolische Ausdeutung auf, die in existenziellen menschlichen Fragen mündet: Der Künstler orientierte sich am Motiv des Lebensweges, das in der Malerei der Romantik häufig aufgegriffen wird und meist als Pfad in einer unwirtlichen Natur hin zum Licht und zu einer Erlösung verheißenden Weite führt, wie etwa in Carus’ Gemälde „Pilger im Felsental“.

Anders als bei den meisten Romantikern, in deren Bildern auch noch der steinigste und steilste Weg – die Mühsal und Ödnis des menschlichen Daseins – am Ende des Lebens Hoffnung, d. h. auch göttliche Gnade, verheißt, radikalisiert Blechen diese Bildsprache. In seinen Ruinenbildern herrscht ein diffus-fahles Licht, es ist abweisend, nicht tröstlich, sondern bedrohlich. In unserem Bild erstrahlt der Abendhimmel zwar in der Unendlichkeit einer kosmischen Tiefe im Verglühen der letzten Sonnenstrahlen – der Mensch, der Wanderer, wird dorthin jedoch nicht seinen Weg finden. Er ist gefangen im dunklen und kalten Raum der höhlenartigen Ruine, gebannt von Todesfurcht und dämonischen Mächten. Noch eindringlicher findet die Hoffnungslosigkeit des Menschen in der Todesgewissheit in Blechens Gemälde „Gebirgsschlucht im Winter“ ihren Ausdruck. Inmitten eng getürmter Felsmassive, in denen man Fratzen und Gigantenköpfe erkennen mag, verstellt dem Betrachter ein kahler, teilweise auch seiner Rinde beraubter Baum den Weg und reckt ihm seine dürren Zweige wie Tentakel entgegen. Auch hier gibt es kein Weiterkommen, auch hier ist sicher, dass die glimmenden Fensterlichter eines am Ende der Schlucht liegenden Hauses niemals erreicht werden. Selbst die Marienstatue am Weg kann Not und Verzweiflung nicht tröstend abwenden. Auch dieses Bild weist möglicherweise Verbindungen zu Bühnenentwürfen auf – etwa zur Wolfsschlucht aus dem „Freischütz“ –, ist als Gemälde, aus dem Kontext genommen, aber eigenständig zu sehen und wird zur Metapher von Kälte, Tod, Bedrohung und Ausweglosigkeit.

Einsamkeit, Zweifel an einer Erlösung, das Gefühl des Ausgeliefertseins an dunkle Kräfte mögen schon das existenzielle Grundgefühl des jungen Blechen bestimmt haben. Es wurde zehn Jahre später so übermächtig, dass sein Geist und seine Seele geradezu davon stranguliert wurden und er mit 42 Jahren starb. Vorher sollte ihm noch einmal in einer Lebenswende eine künstlerische Neuorientierung gelingen. Auf Blechens Italienreise 1828/29 gewann im Licht des Südens jeder Gegenstand darstellungswürdige Wertschätzung. Indem er Farbe und Licht zu Bildkonstituenten erhob, löste Carl Blechen den Anspruch seiner frühen Jahre nach einer neuen Naturerfahrung ein und wurde zu einem Wegbereiter der Freilichtmalerei.

Und noch eine ganz andere Geschichte erzählt die „Romantische Landschaft mit Ruine“: Als „Strandgut“ des Zweiten Weltkriegs ging das Gemälde mit vielen anderen Kunstwerken, deren Besitzer sich damals nicht ermitteln ließen, in die Betreuung der Bundesrepublik Deutschland über, die es als Leihgabe an das Museum nach Münster vermittelte. Im Zuge einer intensivierten Provenienzforschung in den vergangenen Jahren konnten die rechtmäßigen Eigentümer 2009 ermittelt und das Bild an diese zurückgegeben werden. Es ist ihrem Vertrauen und ihrer Verbundenheit mit der musealen Landschaft in Deutschland zu danken, dass nun ein Rückkauf gelang und Blechens frühes Meisterwerk für immer in Münster bleiben wird.