Mittag der Moderne

Die Erinnerung färbt sich bunt. In einem Interview mit dem Kunsthändler Roman Norbert Ketterer schildert Erich Heckel 1958 seine ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Aufenthalte im Nordseebad Dangast bei Wilhelmshaven in den schönsten Farben: „Dieser Schlick leuchtete in ungeheurer Pracht rot oder braun, aber das Wasser war ebenso farbig. Dieselbe starke Farbigkeit besaß das Moor durch seine Pflanzen mit leuchtenden Farben, zum Beispiel Arnika und Enzian, und durch die eisenhaltige Erde mit roten und braunen Tönen. Hinzu kam die Geest, also die Sanddüne, auf der eine Mühle stand, […] diese schöne blaue Mühle.“

Alles nur Schönfärberei und Nostalgie? Auf dem 1907 entstandenen Gemälde „Mittag in der Marsch (Dangast)“ des „Brücke“-Mitbegründers Erich Heckel (1883–1970) erkennt man vieles sofort wieder: das massive Rot der schweren Erde; den weiten blauen Himmel über der Mittagshitze; die vom Wind gezauste Vegetation. Andere Gemälde und Aquarelle Heckels aus Dangast zeigen das satte Gelb des wogenden Korns, behäbige rote Häuser, weidendes Vieh. Und natürlich die Mühle. Noch angesichts der blühenden Römischen Campagna hat sich Heckel – nachzulesen in einem Brief an die Hamburger Kunsthistorikerin und Vertraute Rosa Schapire – heimgeträumt in seine norddeutsche Farbenpracht.

Erich Heckel, Mittag in der Marsch (Dangast), 1907 – mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder 2007 vom Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg erworben
Erich Heckel, Mittag in der Marsch (Dangast), 1907 – mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder 2007 vom Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg erworben

In Dangast am Jadebusen hat der Sachse Heckel 24-jährig sein Malerparadies gefunden. Sein Geburtsort Döbeln im sanften Hügelland der Freiberger Mulde hinterließ hingegen keine bleibenden Spuren. Der künstlerische Autodidakt, der in Dresden eigentlich Architektur studiert und im Büro von Wilhelm Kreis gearbeitet hatte, malte sich erst unter dem weiten Himmel des Oldenburger Landes völlig frei. Die legendären Sommerausflüge der „Brücke“-Maler an die Moritzburger Teiche bei Dresden, gemeinhin als Höhepunkt im Schaffen der Künstlergemeinschaft bewertet, setzen zeitlich übrigens erst nach Dangast ein. Dresden – Dangast – Moritzburg – Berlin: Hauptrouten der Moderne verlaufen nicht immer durch Hauptorte. Die Bilder Heckels und seines Künstlerfreundes Karl Schmidt-Rottluff, die zwischen 1907 und 1912 in Dangast und Umgebung entstanden, gehören zu den großartigsten Landschaftsdarstellungen des deutschen Expressionismus. Und im Falle Heckels leider auch zu den seltenen. Bei dem kriegsbedingten Atelierbrand 1944 in Berlin wurden große Teile seines Frühwerks vernichtet.

„Mittag in der Marsch (Dangast)“ ist ein Bild wie aus dem Coffeetablebook der Kunstgeschichte. „Es ist ein zentrales Stück unserer Sammlung und für uns identitätsstiftend“, erklärt Rainer Stamm, Direktor des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg. Seit 1957 hängt die farbstarke norddeutsche Landschaft mit Wiedererkennungswert im Oldenburger Museum: zunächst dank der Unterstützung des Künstlers in der Pionier-Ausstellung „Maler der Brücke in Dangast“, danach jahrzehntelang als Dauerleihgabe des Oldenburger Kunstvereins. Der hatte es 1958 für 2.000 DM erworben, dazu zwei weitere frühe Dangast-Gemälde Heckels, ein Aquarell Schmidt-Rottluffs sowie Graphiken – insgesamt für 10.000 Mark, heute kaum vorstellbar. Natürlich ging es um das Schließen von Wunden, die die Aktion „Entartete Kunst“ 1937 in Oldenburg geschlagen hatte. Allein 114 Werke aus dem Landesmuseum waren damals beschlagnahmt worden. Die Ankaufsaktion 1958 erfolgte kurioserweise über den Oldenburger Kunstverein, weil sich der damalige Museumsdirektor für den Expressionismus der „Brücke“-Künstler partout nicht engagieren wollte. Eine echte deutsche Nachkriegsgeschichte.

2007 entschied sich der Kunstverein dann, Bilder zu veräußern. Mit Mitteln der Kulturstiftung der Länder, des Landes Niedersachsen und weiterer Förderer konnte der Verbleib von „Mittag in der Marsch (Dangast)“ im Oldenburger Landesmuseum gesichert werden. Ein Glücksfall: Das Gemälde bleibt ein Blickfang der Galerie Neuer Meister, die seit 2003 im sanierten klassizistischen Prinzenpalais untergebracht ist. Die Präsentation schlägt den Bogen von Menzel, Böcklin und Makart zur Moderne. Der Expressionisten-Saal, der Heckel und Schmidt-Rottluff einen gewichtigen Auftritt einräumt, gehört zu den stärksten Räumen im Haus.

2007 entschied sich der Kunstverein dann, Bilder zu veräußern. Mit Mitteln der Kulturstiftung der Länder, des Landes Niedersachsen und weiterer Förderer konnte der Verbleib von „Mittag in der Marsch (Dangast)“ im Oldenburger Landesmuseum gesichert werden. Ein Glücksfall: Das Gemälde bleibt ein Blickfang der Galerie Neuer Meister, die seit 2003 im sanierten klassizistischen Prinzenpalais untergebracht ist. Die Präsentation schlägt den Bogen von Menzel, Böcklin und Makart zur Moderne. Der Expressionisten-Saal, der Heckel und Schmidt-Rottluff einen gewichtigen Auftritt einräumt, gehört zu den stärksten Räumen im Haus.

In keinem anderen deutschen Museum wird eindrucksvoller deutlich, was für einen künstlerischen Schub die Dangast-Erfahrung bei den jungen Malern der „Brücke“ auslöste. „Mittag in der Marsch (Dangast)“ oder die im Sommer darauf entstandene „Dangaster Landschaft“ sind dafür gute Beispiele. Heckels pastoser Pinselduktus erinnert noch stark an den kraftvollen Postimpressionismus eines Vincent van Gogh. Doch die aus ungemischten Primärtönen abgeleitete Farbigkeit entspricht bereits weit eher den Farbrevolten der französischen Fauves. In den vier Sommern, die Heckel und Schmidt-Rottluff gemeinsam in Dangast verbrachten, entwickelt sich ihr Stil unentwegt weiter: hin zu einer großzügigen Flächigkeit, die sich endgültig von der Funktion der Malerei als Abbild einer wie auch immer gearteten Realität löst.

Einzigartig ist auch der biographische Rahmen, der sich in Oldenburg aufspannt. Heckel und Schmidt-Rottluff verbrachten ihre Zeit in Dangastermoor, wohin sie im Frühjahr und Sommer 1907 gereist waren, und später in Dangast nicht im Nirgendwo. Sie bekamen Besuch von Hamburger Freunden wie dem Sammler Gustav Schiefler oder von Rosa Schapire. Heckel wie Schmidt-Rottluff traten schon 1907 in den Oldenburger Künstlerbund und in die Vereinigung nordwestdeutscher Künstler ein. Immer wieder schlossen sich den Aussteigern auf Zeit andere Künstler an: so der „Brücke“-Kollege Max Pechstein oder Schmidt-Rottluffs Schülerin Emma Ritter. Auch ihre Arbeiten, die auffällige Korrespondenzen zu denen von Heckel und Schmidt-Rottluff aufweisen, werden im Landesmuseum Oldenburg präsentiert.

Ist Dangast eine Künstlerkolonie gewesen? Heckel und Schmidt-Rottluff hegten jedenfalls ernsthafte Absichten, Mutter Natur am Jadebusen zu finden. Heckel fertigte 1907 einen Holzschnitt für den Briefkopf „Künstlergruppe Brücke Dangastermoor/Old“. Er hat sogar mit dem Gedanken gespielt, sich in Dangast, wo er nahe der Kuranlagen zur Miete lebte, mit Schmidt-Rottluff ein Haus zu kaufen. Ein antizivilisatorisches und antiurbanes Element; die Sehnsucht nach dem einfachen Leben; das Malen vor der Natur, all das gehört – mehr oder weniger stark ausgeprägt – zu den Vorlieben vieler Künstler der Zeit.

Im September 1907 schreibt Heckel an Schiefler aus Dangast: „Seit ein paar Tagen bin ich wieder hier in Ruhe und Natur, die mir nach den anstrengenden Tagen des Großstadtlebens sehr wohltut.“ Spätestens 1910 bröckelt das Idyll. Die Spannungen zwischen Heckel, Schmidt-Rottluff und Pechstein, der sich in diesem Sommer dazugesellt, sind unübersehbar. Heckel verlässt Dangast bereits Anfang Juli, ab 1913 wird er seine Sommer in Osterholz an der Flensburger Förde verbringen – bis 1944. Nur noch einmal, 1921, kehrt Heckel für einen Kurzaufenthalt nach Dangast zurück. Die Realität der Künstlerkommune war schneller verblasst als die Sehnsucht nach den Farben der Dangaster Marsch.