Kunst im Raum

Liebe Leserin, lieber Leser,

es gibt Momente, in denen Zeitgenössisches historisch wird, Momente, in denen wir das, was uns jahrzehntelang vertraut – und dadurch vielleicht sogar verstaubt – erscheint, in seiner geschichtlichen Bedeutung als etwas Eigenes und Abgeschlossenes erkennen. Und mehr noch: wieder schätzen lernen. Wie anders blicken wir heute auf das, was in den 1960er und 1970er Jahren als ZERO, Fluxus oder Happening den Raum und die Grenzen des Kunstbegriffs gesprengt hat und dann, auch durch den Siegeszug der gegenständlichen Malerei ab Mitte der 1990er Jahre, in den Hintergrund der Kunstgeschichte gelangen sollte.

Solche Momente zwischen Abschied und Wiederentdeckung erleben wir gerade. K. O. Götz, der Meister des deutschen Informel, feiert seinen einhundertsten Geburtstag; der konsequente On Kawara, der eindrückliche Gotthard Graubner und der Licht- und Feuerkünstler Otto Piene sind unlängst hochbetagt verstorben, letzterer nur Stunden nach der Eröffnung seiner Ausstellung in Berlins Neuer Nationalgalerie.

Auf jener Schwelle, wo das Hinschauen zum Rückschauen gerät, kann man sich glücklich schätzen, wenn man die Protagonisten und Zeitzeugen dieser jüngsten Epochen noch befragen, würdigen und ihre Werke für unsere Museen, Bibliotheken und Archive sichern kann. Wann, wenn nicht jetzt?

Wo das Kulturschaffen endet und das Kulturerbe beginnt, ist die Kulturstiftung der Länder besonders gefordert. In unserer Arbeit stellen wir uns immer die Frage, welches Kunstwerk im allerbesten Sinne „reif für’s Museum“ ist, welche künstlerische Position als abgeschlossen, kurzum als sammlungswürdig zu betrachten ist – oder dies in einigen Jahren oder Jahrzehnten womöglich sein wird. Wer – wie wir – die Verantwortung für öffentliche Gelder übernimmt, dem ist das gründliche Befragen Verpflichtung.

Und: Nicht nur die Bedeutung eines Kunstwerks interessiert uns, sondern immer auch die Sammlung, der passende Raum für diese Kunst. Und so freuen wir uns, dass wir dabei helfen konnten, gleich mehrere wichtige Werke einer Künstlergeneration für den richtigen Ort sichern zu können. Ganz besonders glücklich sind wir, dass mit Marie Marcks und Mary Bauermeister auch zwei Künstlerinnen darunter sind. Dies alles und noch viel mehr stellen wir Ihnen in der Herbstausgabe von Arsprototo vor.

Mir bleibt, Ihnen und Ihren Familien einen schönen Spätsommer zu wünschen und Ihnen ganz besonders Uta Baiers Artikel über Friedrich Overbeck zu empfehlen, den „Haupt-Nazarener“ aus Lübeck, mit dem wir das Land Schleswig-Holstein  würdigen möchten. Übrigens: Auch Overbeck ist eine Wiederentdeckung – wie Emil Schumacher, der Pionier des Informel, der in der Kunsthalle zu Kiel im Depot hängt. Vielleicht ja nicht mehr lange…

Ihre

Isabel Pfeiffer-Poensgen