Heiliges Holz

Suggestiv, manipulativ, hemmungslos emotional sind seine Geschichten. Blendend die eingesetzten Mittel, goldstrotzend die Szenerie. Erzählen ohne Worte seine Meisterschaft: Was Arnt, der Bilderschneider, da ins Eichenholz schnitzte, was die Maler an Farben und Effekten seinen Werken beigaben, gehört zum Wirkungsvollsten, was die spätgotische Kunst am Niederrhein aufzubieten hatte. Kurz bevor Tilman Riemenschneider die Farbe aus den Skulpturen verbannte, kurz bevor der Bildersturm die Kirchen und Klöster heimsuchte, kurz bevor auch Katholiken die traditionelle Kirchenausstattung in ihrer Opulenz hinterfragten, wirken die Werke Meister Arnts wie eine expressive letzte Leistungsschau der spätmittelalterlichen Erzählkunst.

In Köln ist der spätgotische Holzschnitzer nun mit seinen besten Werken vertreten: Das Museum Schnütgen hat für die erste monographische Ausstellung rund 60 Werke, die wichtigsten Altäre und Figuren Arnts, aus Kirchen und Museen versammelt, darunter drei seiner Hauptwerke: den Georgsaltar aus der Kalkarer Kirche St. Nicolai, das Kartäuser-Altärchen aus dem Pariser Cluny-Museum, daneben das in der Kölner Sammlung aufbewahrte und jüngst ergänzte Dreikönigsrelief.

Denkbar, dass die mittelalterliche Kerzenbeleuchtung einer Pfarrkirche oder die exklusive Umgebung einer Privatkapelle die ursprüngliche Wirkmacht der Schnitzwerke authentischer zeigen könnten. Aber auch schon von Weitem, aus dem digitalen Corona-Abstand, lässt sich erkennen, was Meister Arnts Kunst seinerzeit so begehrt machte. Vermutlich gleich zwei Werkstätten parallel führte der Schnitzer zeitweise, in Kalkar und hundert Kilometer nordwestlich im niederländischen Zwolle, mit etlichen, gut geschulten Mitarbeitern. Seine Werke, in Holz und Stein, als Großformat für Kirchenausstattungen oder für Herzog Johann I. und seinen Hof in Brüssel, aber auch für private Auftraggeber, sind heute vor allem im Gebiet des ehemaligen Herzogtums Kleve zu finden.

Wenig weiß man sonst über Arnt Beeldesnider selbst, der 1460 erstmalig in Dokumenten erwähnt wird und 1491 in Zwolle stirbt. Seinem unverwechselbaren Stil ist zu verdanken, dass man überhaupt, seit den 1960er-Jahren, das Wirken über­schaut und viele Werke zuschreiben kann. Denn das einzige archivalisch gesicherte Werk ist Arnts Grabchristus.

Die Kölner Ausstellung, von Schnütgen-Direktor Moritz ­Woelk, Volontär Volker Hille, Kuratorin Karen Straub und Arnt-­Experte Guido de Werd in Szene gesetzt, zieht spannende Parallelen zwischen den Kunstgattungen, kann zeigen, wie sich graphische und bildnerische Werke beeinflussten. Auch wie Arnt in den Ateliers geschickt die serielle Produktion seiner realistischen Figuren mithilfe von Modellen plante, lässt sich im direkten Vergleich gut erkennen. Das sicherte die Qualität der Ausführung, die Figuren konnten für wechselnde Sequenzen angepasst und variiert werden. Wobei Arnt seinen Protagonisten immer ihre je eigene Persönlichkeit verlieh, durch fein nuancierte Hauttöne und eine charakteristische Gestik und Mimik.

So wurde Arnt zum Virtuosen des Erzählens in Bildern, ein subtiler, alle technischen Raffinessen nutzender Künstler. Arnt lenkt den Blick, er spitzt dramatische Szenen zu, Figuren sind nicht statisch, sondern sind immer in Bewegung. Dramaturgisch überrascht Arnt neben seiner dynamischen Bildführung, indem er die gewohnte Lesart der biblischen Geschichten brach. Nicht die Kreuzigung in Golgatha, nicht die Grablegung rückte Arnt in den Mittelpunkt seines Passionsretabels, das sich heute im Pariser Musée de Cluny befindet. Nein, bei diesem Hausaltar wählte er die Beweinung des toten Christus als Hauptmotiv. Beeinflusst durch die populären Bildschöpfungen Rogier van der Weydens, setzte er auf unmittelbare Anteilnahme, verstärkt nicht zuletzt durch plastisch gearbeitete Tränen der Begleiter Jesu. Die einschlägigen biblischen Szenen der Leidensgeschichte sind mitsamt ihrem dramatischen Potential Staffage für den intimen Moment der Trauer. Der mutmaßliche Auftraggeber, ein Kartäusermönch, ließ sich von Arnt sogar prominent in die zentrale Szene integrieren. Das kompakte, handliche Retabel ist für Guido de Werd „das schönste niederrheinländische Beispiel aus dem ‚Herbst des Mittelalters‘“.

Auch im Georgsretabel ging Arnt moderne Wege: Nicht die Martern dominieren, sondern der Kampf des goldstrahlenden Ritters steht zentral. Der Drachenbesieger Georg stirbt als verehrter Held. Dass sich Arnt weder um die Chronologie scherte noch die Grundstruktur der tradierten Georgsvita bediente, kann Karen Straub in ihrem Beitrag für den Katalog stringent zeigen. Die Marter im siedenden Blei, das Pfählen, die Marter mit Reißhaken und Feuer oder das Rädern bilden den Fond, während das heroische Handeln Georgs eine neue Bewertung erhält. So steuerte Arnt den Rezeptionsprozess, kommentierte und erneuerte die alten Geschichten. Und mischte sich gezielt ins persönliche Erlebnis der Andacht. Die unmittelbare Wirkung verstärkte Arnt noch mit einem Regiekniff: Es versetzte den Ort der Handlung in die reale Wirklichkeit der Kirchen­besucher, Georg kämpft vor den Toren Kalkars gegen den gefährlichen Drachen, die meisten Figuren sind zudem überwiegend in zeitgenössische Mode gewandet. Arnt arrangierte nicht ein Nebeneinander der verschiedenen Episoden, sondern bettete die Geschichte insgesamt in einen einzigen Landschaftsraum. Die starke Verzahnung erzeugt einen Sog, wobei durch eine subtile perspektivische Gruppierung Haupt- und Nebenhandlung auf engstem Raum ausbalanciert werden. Den Kunstgriff, den Horizont weit an den oberen Bildrand zu setzen, um damit einen tiefen und weiten Raum zu schaffen, hat Arnt den gemalten Panoramen Hans Memlings entlehnt.

Wie genau die Zusammenarbeit des Schnitzers mit den sogenannten Fassmalern war, die Farbe in die Figuren und Altäre brachten, lässt sich heute nicht mehr im Detail nachvollziehen. Doch die Wissenschaftler erkennen an bestimmten Merkmalen der Schnitzführung, dass es detaillierte Planungen gegeben haben muss für die eindrucksvollen Farbfassungen. Besonders der frisch restaurierte Georgsaltar kann darüber Auskunft geben: Denn er trägt noch die originale Fassung, eine Seltenheit, wurden die Altäre doch je nach Zustand und Mode über die Jahrhunderte mit nicht immer der Wirkung zuträglichen neuen Anstrichen versehen.

Eingestreute Glassplitter auf den Felsen und Wegen, polierte Glanzvergoldungen, mit Silber unterlegte Details, Pressbrokatauflagen, helle Grüntöne, tiefblaues Azurit, feinste Farbverläufe, aus Pergament gefertigte Applikationen, Blütenmuster, Edelsteinimitate aus zähflüssigem Harz, Reflexpunkte, vergoldete Bleikugeln, ein Zaumzeug aus mattvergoldetem Leder mit blau gefassten Papierhinterlegungen: Die Auftraggeber, u. a. die Kalkarer Georgs-Bruderschaft, waren sicher hocherfreut über die gelungene Fassung des Georgsaltars. In der Folge bestellte die Liebfrauen-Gesellschaft auch den Hochaltar für St. Nicolai noch bei Meister Arnt. Was sich schließlich als fast unüberwindbarer Nachteil erweisen sollte, denn als Arnt an Weihnachten 1491 über der Herstellung plötzlich starb, dauerte es lange Jahre, um in Ludwig Jupan einen einigermaßen würdigen Nachfolger für die Fertigstellung des Altars zu finden. Andere Bildhauer, die Probefiguren fertigen durften, waren wohl nicht modern genug, um Meister Arnts Erbe anzutreten, vermutet Direktor Woelk.