Tief blicken

Doch nicht wirklich ein Mensch, auch nicht nur ein Vogel, aber auch Pflanze: Ein eigenartiges Mischwesen schwebt in der Weite einer Landschaft, im Hintergrund Fjorde und Wasser als Sinnbild des Traumhaften. Richard Oelze (1900–1980) verarbeitete in seinem Gemälde „Archaisches Fragment“ die Einflüsse der Pariser Surrealisten, die er bei seinem Aufenthalt von 1933 bis 1936 in der französischen Metropole kennenlernte. Bilder aus dem Unbewussten, traumhafte Gestalten und rätselhafte Motivik bestimmten sein in dieser Periode reifendes Werk. Impulse von Max Ernst, René Magritte und Yves Tanguy verbinden sich dabei mit einer an altmeisterlichen Vorbildern geschulten Maltechnik. Der Titel des nun für das Städel erworbenen Werks spielt auch auf primitive Triebe an, die die Surrealisten mit dem Rückgriff auf die Psychoanalyse im Unbewussten gefangen sahen. In Werken von Salvador Dalí, bei René Magritte und auch in Oelzes „Archaischem Fragment“ werden verborgene Ängste und Begierden in grotesken Metamorphosen lebendig: In oft erotisch aufgeladenen Landschaften treten verstörend real wirkende Figuren in einer surrealen Körperlichkeit auf die grell erleuchtete Szenerie. Die seelischen „Inbilder“ (Oelze) lassen das Unbewusste in einem irrealen Ausdruck erscheinen. So macht Oelzes Rätselbild unabweisbar die andere, zweite Wirklichkeit aus den verdrängten Tiefen der Seele sichtbar.

Die präzise Malweise erinnert dabei auch an Oelzes Ausbildung: Die Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Otto Dix und Richard Müller, waren an der Dresdner Kunstakademie seine Lehrer gewesen. „Urbilder schaffen, […] die für alle Menschen erkennbar sind“, nannte Oelze seinen künstlerischen Anspruch.

Richard Oelzes Gemälde „Archaisches Fragment“ von 1935 wurde bereits ein Jahr nach Entstehen auf der für die internationale Verbreitung des Surrealismus zentralen Londoner Ausstellung „International Surrealist Exhibition“ neben Werken von Max Ernst, Salvador Dalí und Man Ray gezeigt. Danach war es in den 1940er-Jahren bei zahlreichen, die Avantgarde präsentierenden Ausstellungen zu sehen. Richard Oelze wurde gefördert von wichtigen Händlern und Kunsthistorikern, das Museum of Modern Art in New York erwarb beispielsweise bereits 1940 Oelzes großformatiges Gemälde „Erwartung“.

Richard Oelze, Archaisches Fragment, 1935, 98 x 130 cm; © Estate of Richard Oelze, Foto: Städel Museum
Richard Oelze, Archaisches Fragment, 1935, 98 x 130 cm; © Estate of Richard Oelze, Foto: Städel Museum

Das Städel, das bisher nur wenige Werke des Surrealismus präsentieren kann, freut sich nun über den Ankauf des Schlüsselwerks von Richard Oelze. Aus der surrealistischen Werkphase Oelzes vor 1945 sind nur 14 Werke bekannt, vier davon werden vermisst. Auch das „Archaische Fragment“ galt lange als verschollen, nun wurde es aus Privatbesitz angeboten: Es soll im Städel Brücken schlagen zum Symbolismus als einem Vorläufer des Surrealismus und in der Zusammenschau auch Oelzes Nähe zur surrealistischen Fotografie sichtbar machen. Das Werk konnte mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Kurt und Marga Möllgaard-Stiftung erworben werden.

Markus Hilgert, Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder, sagte: „Richard Oelze ist neben Max Ernst der bedeutendste deutsche Vertreter des Surrealismus. ‚Archaisches Fragment‘ gehört zu seinen raren großformatigen Hauptwerken, das Gemälde galt lange Zeit als verschollen. Ich freue mich, dass mit dieser Erwerbung die Surrealismus-Sammlung des Städel einen neuen herausragenden Mittelpunkt erhält.“