Zwischen Ideal und Illusion

Kaum einer wird sich noch an die Fotografiebücher Von Moskau nach Berlin (1979) und Die Sowjetunion zwischen den Kriegen (1981) erinnern, obwohl prominente Autoren wie Heinrich Böll und Gerd Ruge die Einführungen geschrieben haben. Diese Bücher wurden in der Hochphase des Kalten Krieges in der Absicht publiziert, im Westen ein gewisses historisches Verständnis für die Sowjetunion anzumahnen, denn der Kalte Krieg – so Heinrich Böll – habe nicht nur das vergangene Leiden der Menschen in der Sowjetunion durch äußere und innere Feinde vergessen lassen, sondern sogar die ganze Wahrnehmung verhindert.

Georgij Anatol’ewitsch Sel’ma, Versammlung der Kolchose in Tula, 1929
Georgij Anatol’ewitsch Sel’ma, Versammlung der Kolchose in Tula, 1929

Beide Bildbände versammelten Fotografien, die Daniela Mrázkowá in Prag gesammelt hatte und von dort aus unter schwierigsten Bedingungen im Westen erscheinen ließ. Sie hatte russische Sprache, Kunst und Literatur studiert und daneben begonnen, in der Redaktion der revue fotografie zu arbeiten. Diese Vierteljahresschrift aus Prag, deren äußeres Erscheinungsbild sich mit der legendären Zeitschrift twen durchaus vergleichen ließe, war äußerst populär, vor allem in der Sowjetunion, wo Ähnliches nicht zu bekommen war. Ab 1971 arbeitete Daniela Mrázkowá als Chefredakteurin und publizierte immer wieder Aufnahmen, die aus russischer Sicht das Leiden der Bevölkerung und den Siegeszug nach Berlin 1945 zeigten. Durch die Begegnung mit Zeitzeugen wurde sie wenig später motiviert, sich auch für die sowjetische Fotografie der 1920er und 1930er Jahre zu interessieren. Sie lud zahlreiche Fotografen nach Prag ein, veröffentlichte deren Fotografien und erntete große Dankbarkeit, denn in der Sowjetunion galt nach wie vor die Maxime, die einstige Avantgarde zu verschweigen und nur den heroischen Sowjetkämpfer vorzuführen.

Viele Künstler der russischen Avantgarde haben nicht nur die Revolution rückhaltlos als Triumph der neuen sozialistischen Ordnung begrüßt, sondern auch dem Medium der Fotografie eine Sonderrolle im Aufbau des neuen Gesellschaftssystems zugewiesen. Der fotografische Apparat wurde als ideales technisches Instrument einer konstruktiven Gestaltung und Erziehung des neuen Menschen und seiner vollständig zu verändernden alten Lebensform beschworen. Führende Protagonisten dieser Bewegung entwarfen umfassende Programme zur Arbeit mit der Fotografie, um die traditionelle Wahrnehmung durch ein neues Sehen zu revolutionieren und den gesamten Bezug zur Wirklichkeit neu zu definieren. Nicht die Entwicklung aus der hergebrachten Gesellschaftsordnung, sondern der radikale Bruch mit der verhassten Vergangenheit wurde propagiert. In diesem Prozess spielte die Fotografie demzufolge eine herausragende Rolle, zunächst als künstlerisches Medium der Avantgarde, dann als Dokumentarfotografie und vor allem als publizistisches Mittel der Propaganda, welches das große Heer der Analphabeten zu erreichen hatte. Der Erfolgsdruck der Revolution ließ keinen Rückweg zu, und so führten die avantgardistischen Bestrebungen zunächst zu einer Ästhetisierung aller Lebensbereiche und letztlich zur Entfernung jeglicher individualistischer Ambitionen zugunsten des Kollektivs. Bald wurden auch die Fotografen zu Komplizen der Diktatur, als diese – im Namen des Fortschritts der revolutionären Umgestaltung – deren Unterordnung befahl. Das innovative Potenzial der Fotografie, welches sich in den 1920er Jahren noch entwickeln konnte, wurde umfassend für die Propaganda instrumentalisiert. Ab 1936 war endgültig jede künstlerische Arbeit dem zentralen Dirigismus der Partei und dem einen Diktator Stalin unterstellt.

Die Sammlung Daniela Mrázkowá umfasst den gesamten Spannungsbogen dieser Entwicklung von den Motiven der dynamisch-neuen Sicht auf das Großstadtleben über die Errungenschaften der Industrialisierung bis hin zur Dokumentation der Lebensformen der vielen Völker im Riesenreich der Sowjetunion. Diese Kollektion besteht aus 234 Bildern der bedeutendsten sowjetischen Fotografen der 1929er und 1930er Jahre, wie Arkadij Schajchet, Georgij Sel’ma, Boris Ignatowitsch, Max Alpert, Georgij Petrusow, Aleksandr Rodtschenko u.a. Die Bilder dieser Sammlung stellen damit einen Querschnitt durch die damalige Fotografie dar, sie reflektieren aber auch den unaufhaltsamen Fall in den Abgrund der Despotie stalinistischer Prägung.

Die Sammlung Mrázkowá repräsentiert nicht nur ein spannendes Kapitel der sowjetischen Fotografie, sondern auch deren beginnende Rezeption im Westen, für die die Geschichte dieser Avantgarde jenseits des ‚Eisernen Vorhangs‘ seit Ende der 1960er Jahre eine sensationelle Neuentdeckung darstellte. Im Frühjahr 1982 wurden die Fotografien im Museum of Modern Art in Oxford erstmalig gezeigt, bevor sie in verschiedenen Galerien und im International Center of Photography (ICP) in New York zu sehen waren.

Authentisches, originales Material der sowjetischen Fotografen ist kaum in Sammlungen der Bundesrepublik vorhanden. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Initiative von Peter und Irene Ludwig, seit den 1970er Jahren erstmals eine Sammlung von Malerei, Graphik und Fotografie der russischen Avantgarde außerhalb der Sowjetunion aufgebaut zu haben, als zukunftsweisende Tat. Auch die in Prag lebende Publizistin und Kuratorin Daniela Mrázkowá trug ihre Sammlung in den 1960er und 1970er Jahren zusammen, um in der Hochphase des Kalten Krieges dem ‚anderen Russland‘ eine Stimme zu geben. Der Ankauf der Sammlung Mrázkowá ist deshalb für das Museum Ludwig mit seinem Sammlungsschwerpunkt ‚Russische Avantgarde im 20. Jahrhundert‘ ein großer Gewinn. Der vorhandene Bestand an Fotografien vor allem von Aleksandr Rodtschenko erhält eine willkommene Bereicherung und Ergänzung durch die Fotografien, die ‚politischen Bilder‘ seiner Mitstreiter, Widersacher und Zeitgenossen. Im April 2008 ist es dem Museum Ludwig gelungen, mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder, der Kunststiftung NRW und des Landes Nordrhein-Westfalen die Sammlung Daniela Mrázkowá zu erwerben.