Frühe Fotokunst

Schüchtern schmiegt sie sich an die Brust der Mutter, die sich ihr liebevoll zu­wen­det, sie fest in den Armen hält. Neugier blitzt aus Linas kind­lichen Augen, gerade­wegs blickt sie ins Objektiv. Scheinbar ein vertrautes Familienmotiv, sind Mutter und Tochter Steinheil doch Hauptdarstellerinnen einer wahren Sensation: Als eines der ersten fotografischen Porträts Deutschlands geht der intime Augenblick auf Carl August Steinheils Daguerreotypie „Elise Steinheil mit Tochter Lina“ von 1840/41 in die Fotografiegeschichte ein. Steinheils originale Platte und Tausende weitere Aufnahmen aus der Frühzeit der deutschen Fotografie des 19. Jahrhunderts hat der Produzent und Dokumentarfilmer Dietmar Siegert seit den 1970er Jahren zusammengetragen. Mit Unter­stützung der Kulturstiftung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststiftung, der Hypo-Kulturstiftung und der Wüstenrot Stiftung geht diese weltweit einmalige Privatsammlung nun ins Mün­chn­er Stadtmuseum über. Die rund 8.400 kostbaren Originale – darunter zahl­reiche Unikate – lassen in einem fotografischen Panorama das Deutschland der Jahre 1840 bis 1890 wieder­auferstehen.

Vertreten sind fast alle Pioniere des Me­diums: Georg Maria Eckert mit über 350 Naturstudien, Joseph Albert und seine märchenhaften Kostüm­ball-Fotografien, aber auch Friedrich Brandt, der als einer der ersten Kriegs­fotografen Europas die Schauplätze des deutsch-dänischen Kriegs im Jahr 1864 dokumen­tierte. Mit Land­schafts- und Stadtaufnahmen von München bis Hamburg, vom Schwarz­wald bis nach Danzig durchmessen u. a. die namhaften Lichtbildner Franz Hanf­staengl, Georg Koppmann oder Hermann Krone das damalige Deutschland. Mit bald nach der Erfin­dung des neuen Mediums kürzer werdenden Belichtungs­zeiten wurden Por­trät- und Genrefotos populär – Siegerts künstlerisch wie kultur­historisch wert­volle Kollek­tion versammelt sie in großem Umfang: Man begegnet dem Adel wie den Hand­werkern, Bauern, Politikern und Künstlern – darunter die kost­bare Aufnahme des Dichters und Malers Harro Harring von Carl Ferdinand Stelz­ner. Die Techniken reichen von den versilberten Kupferplatten der Daguerreo­typien über empfindliches Salzpapier bis hin zum mit Eiweiß behan­del­ten Albu­minpapier, somit spiegelt die Sammlung auch die rasante Entwicklung des Me­diums wider. Das bereits beachtliche Repertoire des Münchner Stadtmuseums zur deutschen Foto­grafiegeschichte erhält mit der jüngsten Erwerbung hochkarätigen Zuwachs: Keine an­dere öffentliche Institution in Deutschland verfügt über eine vergleichbar um­fang­reiche und erlesene fotografische Sammlung zum 19. Jahr­hundert. Dass Dietmar Siegert seine Sammlung ins Münchner Stadtmuseum gibt, ist auch eine Auszeich­nung der hervorragenden wissenschaftlich-musealen Arbeit des Hauses.