Im Land des „Blauen Pferdchens“

Saarschleife oder Alte Völklinger Hütte – welches Symbol steht für das Saarland? Seit geraumer Zeit hat das einst unangefochtene Natur-Idyll-Wahrzeichen des Saarlandes, ein kurioser Flussverlauf im Norden des Landes, Konkurrenz bekommen. Die spitzzackige Hochofen-Silhouette des Weltkulturerbes Völklinger Hütte erscheint immer öfter in touristischen Werbeprospekten. Das 1986 unter Denkmalschutz gestellte Eisenwerk, über Jahre vom Abriss bedroht, hat sich mit Hilfe des Bundes, der die 68 Millionen Euro Sanierungs- und Erschließungskosten mitträgt, mächtig entwickelt: zu einem professionell gemanagten industrie-kulturellen Vorzeigeprojekt, das jeden internationalen Vergleich aushält. Über 200.000 Besucher kommen pro Jahr. Denn das sechs Hektar große Hüttenareal bietet mehr als Abenteuerspaß in schroff-faszinierenden Industrieruinen-Kulissen. Das Team hat sich auf eine breitenwirksame und familientaugliche Programmatik festgelegt. Dem Rundgang, der die Produktionsgeschichte des Eisens erzählt, werden kulturhistorische Sonderpräsentationen mit „Glanzeffekt“ zur Seite gestellt („Inkagold“, „Schätze aus dem Morgenland“), hinzu treten Science-Center-Projekte („Dein Gehirn. Denken. Fühlen. Handeln“). Die Alte Völklinger Hütte kann aus konservatorischen Gründen kein Kunststandort sein, und trotzdem holt Direktor Meinrad Maria Grewenig immer auch mal Künstler an Bord: Otmar Alt oder Douane Hanson. Ob er mit dieser Mischung den selbst gesetzten Anspruch erfüllt, den klassischen Museumsbegriff zu erweitern, sei dahingestellt. Auf jeden Fall kann sich Grewenig mit dieser Programmlinie selbstbewusst absetzen und behaupten gegenüber dem saarländischen Top-Anbieter in Sachen Kunstsammlungen und -ausstellungen, der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz. Letztere steht glänzender da denn je. Der seit rund fünf Jahren verpflichtete Vorstand Dr. Ralph Melcher hat die Besucherzahlen annähernd verdoppelt, auf 215.000, nicht zuletzt durch den Zugewinn der Schlosskirche am vielbesuchten barocken Saarbrücker Schlossplatz. Die Kirche mit den wunderbaren Meistermann-Fenstern wurde saniert und ist als „Museum“ für die sakralen Bestände hergerichtet – und ein Publikumsrenner. Die „Umwidmung“ vollzog Melcher im Rahmen eines bereits 2001 eingeleiteten radikalen Umstrukturierungs- und Modernisierungsprozesses der Stiftung, der mit vielen Umzügen und Umbauten einherging. Hauptziel war eine Zusammenführung ihrer historischen Sammlungen von der Kelten- bis zur Fürstenzeit am Saarbrücker Schlossplatz und der Bau einer „Galerie der Gegenwart“, eines „Vierten Pavillons“ der Modernen Galerie auf dem gegenüberliegenden Saarufer. Ein seit 1968 aufgeschobenes Vorhaben. Nun wird 2012 eröffnet. Doch der Streit um Wettbewerb, Standort und Volumen des „Museumsmonsters“ bescherte dem Saarland die erbittertste Kulturfehde der vergangenen Jahrzehnte. Die Konfrontationen überlagerten die Wahrnehmung des unübersehbaren Fortschritts. Am Schlossplatz liegt mittlerweile eine attraktive „historische Museumsmeile“, die nicht nur die Objekte der Stiftung auf 27.000 Quadratmetern ausbreitet, sondern durch einen regional- und stadtgeschichtlichen Schwerpunkt ergänzt wird. Den steuert das nicht zur Stiftung gehörende, muntere Historische Museum Saar bei, das seine Präsentation ebenfalls einer Verjüngungskur unterzogen hat und mit spektakulären unterirdischen Festungsmauern aufwartet. Die Bestände der Stiftung – darunter das legendäre keltische Fürstinnengrab aus Reinheim oder niederländische und italienische Landschaftsbilder und Stillleben aus dem 16. und 17. Jahrhundert (Mignon, van Coninxloo, Boumann) sowie Silber- und Porzellanobjekte und Möbel aus höfischer Zeit – erhielten nicht nur mehr Raum, sondern durch den geschichtsträchtigen Standort auch einen immensen atmosphärischen Zuwachs.

Die moderne Kunst bleibt in der Modernen Galerie. Dort findet sich die Ikone des Landes: Franz Marcs „Blaues Pferdchen“ von 1912. Dieses kleinformatige „Spielzeug“-Bild legt nicht nur Zeugnis ab über die Freundschaft zwischen Marc und August Macke und damit über die Gründungsphase des Blauen Reiters, sondern steht emblematisch für die hochkarätige, risikofreudige und einst geschmähte Sammelpolitik des ehemaligen Saarlandmuseumsdirektors Rudolf Bornschein. In seiner knapp 30jährigen Tätigkeit zwischen 1950 und 1978 bestimmte er im Wesentlichen die heutige Struktur des Saarlandmuseums. Bornschein setzte „elitäre“ Sammelschwerpunkte, bei denen aktuelle und regionale Kunst außen vor blieb: Malerei des deutschen Impressionismus und Expressionismus und französische Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts. Und es ist ihm zu verdanken, dass der Alexander-Archipenko-Nachlass ins Saarland kam. Auch sorgte er für eine Linie, die erst Ralph Melcher wieder verließ: In der Dauerausstellung der 1968 eröffneten Modernen Galerie fand saarländische Kunst keinen Platz. Das Herz- und Glanzstück des Saarlandmuseums ist die Moderne Galerie, ein lichtdurchflutetes, streng strukturiertes Gebäude mit Denkmalrang. Immer wieder ergeben sich reizvolle Blicke ins Grüne, in den Skulpturengarten am Saarufer. Hier erlebt der Besucher Klasse statt Masse. Max Liebermann, Max Slevogt, Lovis Corinth – es ist die bestechende, exzellente Qualität ihrer Gemälde, die Saarbrücken zu einer ersten Adresse des deutschen Impressionismus macht. Auch Kirchner, Heckel, Pechstein, Purrmann, Mueller bilden eine beachtliche Werkgruppe, nicht zuletzt durch Hunderte zeichnerische Blätter, die Teil einer 18.000 Blätter starken Graphischen Sammlung sind. Zur Zeit „versteckt“ sie sich noch in einem hinteren (Verwaltungs-)Gebäude. Daneben gibt es noch die Fotografische Sammlung, die die Weiterentwicklung der Subjektiven Fotografie der Otto-Steinert-Schule (ehemals Saarbrücken, Schule für Kunst und Handwerk) dokumentiert.

Im Saarlandmuseum in Saarbrücken: Franz Marc, Das Blaue Pferdchen, 1912
Im Saarlandmuseum in Saarbrücken: Franz Marc, Das Blaue Pferdchen, 1912

Auch in der Galerie der Gegenwart wird es für diese Schätze keine Dauerausstellungsräume geben, aber eine großzügigere, technisch perfekt ausgestattete Unterbringung, die mehr Publikumsverkehr zulässt. Wie überhaupt der Raumzuwachs von 3.000 Quadratmetern nicht nur der Ankaufspolitik des Museumschefs, sondern allen Abteilungen mehr Luft verschaffen wird. Vor allem wird der Gegenwartskunst endlich ein adäquater Auftritt gegönnt: 1.500 Quadratmeter stehen zukünftig für sie zur Verfügung. Ralph Melcher hat mit Neuerwerbungen zeitgenössischer Künstler (Jonathan Meese, Günther Förg, Michel Majerus, Helmut Dorner, Wawrzyniec Tokarski) und mit Wechselausstellungen (Philippe Bradshaw, Zilla Leutenegger, Damien Deroubaix) aber bereits jetzt eine Linie gesetzt, die die Moderne Galerie wieder kurzschließt mit dem Puls der Zeit und dem Nachbarn Frankreich. Jünger, frecher, vitaler lautet die Marschroute. Melcher will Saarbrücken in der Kunstszene als „Entdecker“-Ort etablieren, der Seitenblicke wagt und Talenten aus der zweiten in die erste Reihe verhilft. Seine Vorgänger hatten sich mehr auf bereits kanonisierte Kunst konzentriert. Selbst der aufgeschlossene Direktor Georg W. Költzsch, von 1978 bis 1988 an der Spitze des Saarlandmuseums, hatte durch sein Engagement für das Informel einen eher rückwärtsgewandten Akzent gesetzt. Danach wurde der Ankaufsetat nahezu gen Null gefahren, Melcher durfte die Starre lösen. Das war mehr als eine (Überlebens-)Notwendigkeit. Denn Schenkungen gehören im „Proletarierland“, dessen Sozial- und Bildungsstruktur durch Kohle-, Stahl- und Automobilzuliefererindustrie geprägt ist, nicht zur Standardausstattung des Kulturbetriebs. Eine Stifterkultur besitzt hier weder Tradition wie zum Beispiel in Bremen noch neuen Humus. Es fehlt eine zahlenmäßig relevante wohlhabende Bürgerschicht, es fehlen große Konzernniederlassungen mit Sponsoringabteilungen. Das Saarland dürfte das einzige Bundesland ohne Kunstverein sein. Mögen auch Sparkassen und die Gesellschaft zur Förderung des Saarländischen Kulturbesitzes immer wieder erstaunliche Ankaufshilfen leisten, der Öffentliche Haushalt muss im Saarland fast allein für die Kultur aufkommen. Nur rund 1,5 Prozent des Haushaltes bleiben dafür übrig. Und mancher Auswärtige wundert sich, wieso dieses ökonomisch schmächtige Eine-Million-Einwohner-„Ländchen“, das noch unter dem Strukturwandel ächzt, kulturell so großstädtisch, so weltoffen, so umtriebig wirkt.

Denn die hohe Vereinsdichte – gewachsen aus der Tradition der Arbeiterbildungsvereine – mag zwar für breitenkulturelle Aktivitäten und Angebote sorgen, die rechte Basis für Szene und Hochkultur gibt sie kaum her. Ist also dann doch alles eine Frage der „durchlässigen“ Mentalität, die trainiert wurde und wird durch die Grenznähe? Luxemburg und Lothringen liegen um die Ecke. Die „Wechselzugehörigkeit“ über Jahrhunderte verhinderte, dass sich das jüngste westliche Bundesland verkapselte, zur deutschen „Provinz“ absackte. „Richtig dehemm“, wie es im Dialekt heißt, fühlte man sich eben nie. Man hält was auf die eigene „Spezialität“. Und so „gönnt“ sich das Saarland alles, was das Herz des Kulturmenschen begehrt, nur nicht eben in der Fülle und Kostbarkeit wie andernorts, sondern jeweils nur in einer Ausführung: Universität, Rundfunkanstalt, Kunst- und Musikhochschule, Weltkulturerbe, Staatstheater, Museumsstiftung (Saarländischer Kulturbesitz), Freiluft-„Oper im Zelt“. Nur eines hat man doppelt: Toporchester – die Radiophilharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern und das Staatsorchester. Die Landeshauptstadt fühlt sich als Kulturnabel der saarländischen Welt. Und ist es auch. Nicht, dass es nicht auch außerhalb reizvolle städtische Galerien oder Museen gäbe. Doch sie können sich mit dem Giganten, der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, nicht messen. Letztere beherbergt nicht nur kostbare Gemälde und Kunstsammlungen, sondern auch frühgeschichtliche und volkskundliche Bestände des Historischen Vereins und des Saarmuseums der Zwanziger Jahre. Später, 1979, trat die Sammlung Kohl-Weigand hinzu, 1998 die hochwertige pressegeschichtliche Sammlung Welke, die heute im Deutschen Zeitungsmuseum in Wadgassen untergebracht ist. Insofern bildet die Stiftung nicht eine konsequente Sammelpolitik ab, sondern dokumentiert ihre eigene heterogene Wachstumsgeschichte in einer nicht eben leicht durchschaubaren Struktur. Trotz der beeindruckenden Neuordnungspolitik seit 2001 erschwert die Vielfalt ein durchschlagskräftiges Profil. Vier Institutionen (Saarlandmuseum, Stadtgalerie, Museum für Vor- und Frühgeschichte, Deutsches Zeitungsmuseum) verteilen sich auf drei Kommunen (Saarbrücken, Wadgassen, Perl) und sieben Standorte; fünf davon finden sich in Saarbrücken: Stadtgalerie (zeitgenössische Kunst), Museum für Vor- und Frühgeschichte, Moderne Galerie, Alte Sammlung, Schlosskirche – die letzteren drei zusammengefasst unter dem Label „Saarlandmuseum“. Aber eine schöne Entwicklung lässt sich in den letzten Jahren beobachten: Je internationaler, je ehrgeiziger, je weltmännischer sich das Saarlandmuseum gibt, umso aufmerksamer reflektieren und begleiten die Häuser außerhalb der Landeshauptstadt – etwa das Mia-Münster-Haus in St. Wendel oder das Museum Ludwig in Saarlouis – die regionale Szene, entdecken vergessene Maler wieder und geben Kunsthochschulstudenten eine Chance. Und liefern eine wunderbare Ergänzung, die den Eindruck der Fülle mehrt.