Das Mädchen auf dem Klappstuhl

Der ernste Blick aus großen dunklen Augen. Das Kind wie aus einem Comic entstiegen. Oder aus einem Märchen mit traurigem Ende. Ein starkes Bild, dieses „Bretonische Mädchen, Marie Francisaille“. Und was für eine Vorgeschichte. Erweckungserlebnisse sind oft zu schön, um wahr zu sein. Die kleine Anekdote, die hier noch einmal erzählt werden soll, entwickelte jedoch ihre eigene Realität. Sie ist zum Ausgangspunkt einer Kunstreligion geworden.

Paul Sérusier, Bretonisches Mädchen, Marie Francisaille, 1896, Öl auf Leinwand, 90 x 54 cm Foto: Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen
Paul Sérusier, Bretonisches Mädchen, Marie Francisaille, 1896, Öl auf Leinwand, 90 x 54 cm Foto: Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen

Paul Sérusier, 23-jähriger Sohn wohlhabender Bürgersleute, reist im Herbst 1888 nach Pont-Aven in der Bretagne. Dort will er mit anderen Künstlern gemeinsam Landschaft und Landleute malen. Damals studiert Sérusier noch an der privaten Académie Julian in Paris, seine Bilder sind konventionell. Eines davon, das rührselige Interieur einer Weberkate, ist auf dem Salon des Jahres 1888, der offiziellen Ausstellung der Pariser Kunstwelt, sogar mit einer „ehrenvollen Erwähnung“ ausgezeichnet worden.

Pont-Aven, die Künstlersommerfrische in der Provinz, tickt anders als Paris. Dort geht es nicht um Status, sondern um Können und Originalität. Paul Gauguin, den von jungen Bewunderern Umschwärmten, wagt Sérusier erst am Tag vor seiner Abreise anzusprechen. Und Gauguin lädt ihn ein, gemeinsam vor der Natur zu malen:

„In welcher Farbe sehen Sie diesen Baum?“
„Gelb.“
„Gut, dann nehmen Sie Ihr schönstes Gelb.“
„Wie sehen Sie die Erde?“
„Rot.“
„Nehmen Sie Ihr schönstes Rot.“ …

Auf dem Deckel einer hölzernen Zigarrenkiste entsteht in kürzester Zeit ein farblich gewagtes, beinahe abstraktes Landschaftsbild, nur ganze 27 mal 21 Zentimeter groß. Gauguins „Lehrmethode“ öffnet Sérusier die Augen. Stolz zeigt der Heimgekehrte den Pariser Freunden das Bildchen, fortan nur noch „Le Talisman“ genannt. Es wird zum Gründungsdokument einer Künstlergruppe, die weit eher einem Mönchsorden mit strengen Regeln gleicht. Und die nichts weniger im Sinn hat als die Revolutionierung der Malerei.

Die zornigen jungen Männer, die sich Nabis (hebräisch: Propheten) nennen, markieren stilistisch – ohne es selbst schon zu wissen – die Wegstrecke zwischen Cézanne und Picasso. Am Wegesrand liegt die Bildwelt japanischer Farbholzschnitte. Unmodulierte Farbflächen ersetzen den illusionistischen Bildraum. Starke Kontraste und überdeutliche Konturen lehren den anspruchslosen Bürger das ästhetische Fürchten. Die Nabis frönen einer Sehnsucht nach Symbolen, die weder vor allegorischen Bildthemen noch vor Dekorativem zurückschreckt. Künstler wie Pierre Bonnard, Édouard Vuillard, Maurice Denis und Félix Vallotton gehören zeitweise zur Gruppe, die sich während der 1890er Jahre bereits wieder auflöst. Paul Sérusier, heute außerhalb Frankreichs zu Unrecht nicht mehr allzu bekannt, ist der Gründer und Messias der Nabis. In seinen Bildern sucht er Erleuchtung.

Nun möchte die Kunsthalle Bremen, von der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung unterstützt, mit „Bretonisches Mädchen, Marie Francisaille“ eines der schönsten Gemälde Sérusiers erwerben. Auch Bremens Bürger sind zum Spenden aufgerufen, ergänzt es die beeindruckende Sammlung französischer Impressionisten und Postimpressionisten der Kunsthalle doch um ein Hauptwerk.

Günter Busch, der ehemalige Direktor der Kunsthalle, hatte in den Nachkriegsjahrzehnten den Bremer Bestand französischer Werke gezielt erweitert. Sein größter Coup in Sachen Nabis war 1973 der Erwerb des Originalkartons zu Maurice Denis’ Huldigungsbild „Hommage à Cézanne“. Der Karton wie das Bild (im Musée d’Orsay) zeigen die Nabis und ihre Künstlerfreunde in lebhafter Diskussion vor einem Stillleben von Cézanne. Sérusier ist ihr Wortführer.

Nun endlich also ein Sérusier, das „Bretonische Mädchen, Marie Francisaille“: Der Neuzugang, erworben mit Blick auf die Wiedereröffnung der rundum erneuerten und erweiterten Kunsthalle, ist zugleich das Abschiedsgeschenk ihres scheidenden Direktors. Wulf Herzogenrath, knapp zwei Jahrzehnte Direktor der von einem Verein getragenen Kunsthalle, wird die voraussichtlich letzte große Amtshandlung vor seiner Pensionierung genießen. Haus und Sammlung sollen ab Sommer 2011 wieder zugänglich sein. Für Sérusier wird es in Bremen eine Premiere sein.

Mit dem „Bretonischen Mädchen“ gewinnt die Kunsthalle ein Gemälde, das Sérusier auf dem Höhepunkt seiner Kunst zeigt. 1895/1896 entstehen im Bretagne-Dorf Châteauneuf-du-Faou, in dem Sérusier die Sommermonate verbringt, eine vorbereitende Zeichnung und später im Pariser Atelier zwei beinahe identische Gemäldefassungen, die die kleine Marie Francisaille in Frontalansicht zeigen (eines hängt heute im Pariser Musée d’Orsay, das zweite, aus einer französischen Privatsammlung, nun in Bremen). Vom dominierenden Einfluss Gauguins befreit, mit dem Sérusier die Sommer 1889 und 1890 malend in Pont-Aven und Le Pouldu verbracht hatte, steht die für spätere Werke typische Hinwendung zu mittelalterlichen Vorbildern noch aus. Mitte der 1890er Jahre, als sich Sérusier künstlerisch mit dem Bauernkind aus Châteauneuf-du-Faou auseinandersetzt, ist er ganz bei sich.

Paula Modersohn-Becker, Worpsweder Bauernkind auf einem Stuhl sitzend, 1905, 90 × 61 cm; Kunsthalle Bremen
Paula Modersohn-Becker, Worpsweder Bauernkind auf einem Stuhl sitzend, 1905, 90 × 61 cm; Kunsthalle Bremen

Marie Francisaille, über deren Lebensumstände man nichts weiß, stand Sérusier offensichtlich nur widerwillig Modell. Die Kinder des Dorfes fürchteten sich vor dem hoch aufgeschossenen Künstler mit rotem Vollbart und struppiger Künstlermähne. Die Erstfassung von „Bretonisches Mädchen, Marie Francisaille“ (Paris, Musée d’Orsay) ist undatiert. Sie muss 1895 entstanden sein und erweitert die im selben Jahr vor dem Modell entstandene Skizze (Musée de Pont-Aven) zur Ganzfigurendarstellung. Nun erst wird sichtbar, dass das Modell auf einem Klappstuhl sitzt. Die Erstfassung ist im Herbst 1895 im „Salon des Artistes Indépendants“ in Paris ausgestellt worden und gehörte bereits damals dem Ehepaar Misia und Thadée Natanson. Mit der Künstlermuse, heute unter dem Namen ihres dritten Ehemanns als Misia Sert bekannt, und ihrem ersten Mann, dem Gründer der Avantgarde-Zeitschrift „Revue Blanche“, waren Sérusier und andere Nabis freundschaftlich eng verbunden.

Die Bremer Zweitfassung, auf den Zentimeter genau so groß wie die Pariser Version, ist auf 1896 datiert. Sérusier wiederholte das Motiv für sich selbst, verblieb das Gemälde doch bis zum Tod des Künstlers 1927 in seinem Atelier. Das Bremer Bild unterscheidet sich vom Pariser in entscheidenden Details, etwa der mit hellbraunen Pinselstrichen gemalten Binnenstruktur des Bodens. Sie verleiht der grüngrauen Fläche die Anmutung von Räumlichkeit. Beim Pariser Gemälde unterscheidet sich die Farbe der amorphen Bodenfläche hingegen in nichts von der Wand, vor der das Mädchen sitzt. Dasselbe Grüngrau verwendet Sérusier auch als Komplementärfarbe der ansonsten schwarzen Tracht – beinahe so, als würde man durch die kleine Marie Francisaille hindurch sehen. Lediglich Gesicht und Hände des Kindes sowie Füße und Sitzfläche des Klappstuhls scheinen in ihrem kräftigen Orangerot aus einem anderen, dichteren, wärmeren Stoff gemacht.

Warum also hat Sérusier seine zündende Idee, durch vereinheitlichendes Grüngrau die Künstlichkeit des Dargestellten zu betonen, bei der Zweitfassung zugunsten einer scheinbar konventionelleren Lösung aufgegeben? Soll mit den an Bretter erinnernden Linien auf dem Boden eine Theaterbühne evoziert werden? Schließlich arbeitet der theaterbegeisterte Sérusier damals im „Théâtre de l’Œuvre“ seines Freundes Lugné-Poe als ständiger Mitarbeiter, der Kulissen malt, die Regieassistenz übernimmt und notfalls auch als Schauspieler auftritt. Eine bloße Kopie ist die Bremer Zweitfassung also beileibe nicht. Wer das Bild genauer betrachtet, dem fällt auf, dass Sérusier bei den Konturen der Figur immer wieder neu ansetzte. Sérusier, der eine eigene Farbtheorie entwickelt hat und die synthetische Malweise Gauguins weiterzutreiben suchte, kämpft hier über drei Bildversionen hinweg – Zeichnung, Pariser Fassung, Bremer Fassung – um die Durchdringung und Vereinfachung seines Motivs.

Die Pariser Erstfassung der „Marie Francisaille“ war schon einmal, im Herbst 2007, bei der großartigen Ausstellung „Paula Modersohn-Becker und die Kunst in Paris um 1900“ als Leihgabe in der Bremer Kunsthalle zu Gast. Nun darf die ebenso bedeutende Zweitfassung dauerhaft mit den großartigen Kinderbildnissen der zwischen Paris und Worpswede, zwischen Bohème und Erdenschwere hin und her gerissenen Malerin in Korres­pondenz treten. Wie Sérusier zeigte sich die zwölf Jahre jüngere Deutsche tief bewegt von der Ausstrahlung einfacher Bauern und von deren Kindern.

Auch Paula Modersohn-Becker malte um 1905 ein sitzendes Bauernmädchen, das den Betrachter aus großen dunklen Augen frontal fixiert und die Hände auf dem Schoß übereinander legt. Trotz seiner großen Melancholie gehört es zu den populärsten Bildern der Kunsthalle Bremen. Dass die Malerin Lithographien Sérusiers bereits 1898 während eines Berlin-Aufenthaltes gesehen hat, ist bekannt. Ob sie das Motiv der Marie Francisaille je zu Gesicht bekam, bleibt Spekulation. Eine Spekulation, die unsere Phantasie beflügelt. Die Kunst lebt davon.