Von St. Trinians bis Le Monde

Er ist ein Meister der Zeichenfeder, der mit seinen Linien und Strichen virtuos den ganzen ­Kosmos der Comédie Humaine in einem durchaus Balzac’schen Sinne einfängt: Ronald Searle. 1920 im englischen Cambridge geboren, zeigt sich früh sein zeichnerisches Talent, aber auch die Beharrlichkeit und der Fleiß, dieses in die Wiege gelegte Talent zu entwickeln. So schreibt sich Ronald Searle bereits mit 15 Jahren für Abendkurse an der Cambridge School of Art ein und verdient sich die Kursgebühren als Paketpacker bei der Cambridge Cooperative Society. Und als er etwa gleichzeitig erfährt, dass die Stelle des Hauscartoonisten der Cambridge Daily News vakant ist, schickt er kurz entschlossen eine Zeichnung an die Redaktion. Der mutige Schritt wird belohnt, und Searle hat seinen ersten Job: Am 26. Oktober 1935 erscheint der erste von insgesamt 195 Cartoons für diese Zeitung. Und als Bezahlung erhält er eine halbe Guinee (= 10 Schilling, 6 Pence) – mehr, als er in einer Woche als Packer verdienen kann!

Ronald Searle, Die haben alle etwas gegen mich, 1972 (The New Yorker, 17. Februar 1973, Titel)
Ronald Searle, Die haben alle etwas gegen mich, 1972 (The New Yorker, 17. Februar 1973, Titel)

1938 erfüllt sich dann ein sehnlicher Wunsch des ambitionierten Kunsteleven: Searle erhält ein Stipendium für ein Vollzeit-Studium an der Cambridge School of Art. Mit großem Enthusiasmus und Eifer widmet er sich dem Unterricht und nutzt auch darüber hinaus alle Möglichkeiten zu künstlerischer Betätigung – angefangen bei der Mitarbeit an der Universitätszeitung Granta bis hin zur Mitwirkung an Theateraufführungen. Die erhaltenen Zeugnisse dieser Zeit heben seine überdurchschnittlichen Leistungen hervor und betonen zugleich die stetigen Fortschritte. Searle lernt an der Kunstschule aber vor allem eines: „…sich nicht zu bewegen, essen, trinken oder schlafen ohne ein Skizzenbuch in der Hand.“ Diese Regel wird zu seiner Maxime, und genaues Hinsehen und Zeichnen für ihn ebenso selbstverständlich wie Atmen.

Ein Foto vom Juni 1939 zeigt den selbstbewussten jungen Künstler, der in seinem Zimmer vor einer Wand mit zahlreichen seiner Zeichenstudien in lässiger Pose auf dem Bett liegt. Mit Totenschädel und brennender Kerze reiht sich das Foto in die Tradition des Künstlerporträts ein. Doch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zerplatzen vorerst alle Träume Searles von einer Karriere als Künstler: Am 1. September 1939 erfolgt die Mobilmachung der britischen Armee, und Searle erhält die Aufforderung, am 2. September 1939 um spätestens 9 Uhr bei den Royal Engineers anzutreten. Mit seiner Einheit, der 250th Field Company, durchläuft er an verschiedenen Orten auf der britischen Insel die militärische Ausbildung – und füllt tagtäglich sein Skizzenbuch. Im Herbst 1941 erhält seine Einheit schließlich den Marschbefehl und verlässt am 29. Oktober den schottischen Hafen Gourock. Während sein Schiff über Kanada Kurs auf Afrika nimmt, bombardieren die Japaner am 7. Dezember 1941 Pearl Harbor. Searle wird daraufhin mit seiner Einheit nach Singapur in den Kampf gegen die japanische Armee geschickt: „1941 wurde ich in den Fernen Osten verschifft. Wir verbrachten drei Monate auf See, ohne irgendeine Beschäftigung außer dem Warten, endlich ‚dort’ anzukommen. Auf dem Schiff füllte ich mehrere Skizzenbücher und machte rund hundert Zeichnungen. Als wir endlich in Singapur von Bord gingen, ging mir das Zeichnen flüssiger als zuvor von der Hand – ich konnte alles, was vor mir war, direkt mit Kugelschreiber aufzeichnen, ohne zu zögern. Ein paar Monate später wurde ich von den Japanern gefangen genommen und in den folgenden vier Jahren wurde mein Lebenszweck zur Lebensnotwendigkeit. Ich war entschlossen, bildlich  festzuhalten, was genau es bedeutet, ein Gefangener zu sein, damit es, falls ich zurück käme, irgendeine Art von Dokumentation davon gäbe.“ Mit Hilfe seiner Kameraden, viel Glück und dem Wissen, dass kein japanischer Bewacher einem Cholerakranken zu nahe kommen und deshalb auch kein Versteck bei ihm finden wird, rettet Searle seine Zeichnungen durch die Gefangenschaft im Dschungel Thailands und nimmt sie mit zurück nach England. Es sind zutiefst berührende Arbeiten eines nicht nur beobachtenden, sondern eines unmittelbar beteiligten Kriegsgefangenen, Zeugnisse von kaum mit Worten zu beschreibender Qual und Grausamkeit. Doch dieser fast vier Jahre andauernde Schrecken, den Searle als einer von wenigen überlebt, formt ihn nach eigener Aussage erst wirklich zum Künstler und weist ihm das Ziel: die Vervollkommnung seiner Kunst der graphischen Satire. 1996 beschreibt er, was sie ihm bedeutet: „Den Tag mit einem Gefühl von Aufregung zu beginnen, ohne eine Ahnung, wohin mein Stift mich diesmal wieder führen wird, das ist für mich die einzige Rechtfertigung, hier auf Erden zu bleiben.“

Im Oktober 1945 kehrt Ronald Searle nach England zurück, wo er durch die Veröffentlichung zurückgelassener Zeichnungen bereits einen Namen hat. Eine dieser Veröffentlichungen war Searle kurz vor seiner Gefangennahme durch Zufall in die Hände gefallen: Mitten im Gefecht fand er in den Straßen von Singapur das Oktober-Heft 1941 des humoristischen englischen Magazins Lilliput und darin auf Seite 313 den Abdruck eines Cartoons von ihm. Zu sehen ist eine kleine Gruppe von englischen Schulmädchen mit Kricketschlägern, die auf einer Anschlagtafel die Ankündigung lesen: „Aufgrund der internationalen Lage wurde das Spiel gegen St. Trinian’s verschoben.“ Es sind aber nicht nur die Umstände, die diese Veröffentlichung so besonders machen: Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft setzt Searle die Geschichten um die frechen, boshaften und frühreifen Girls of St Trinian’s fort – und wird damit quasi über Nacht berühmt. Selbst das frühe, dramatische Ende dieser Geschichten um St Trinian’s – 1953 jagt er die Schule mit einer Atombombe in die Luft – ändert nichts daran, dass Searle zu seinem eigenen Verdruss bis heute in England vielen vor allem als der Schöpfer der stets zu grausamen Streichen aufgelegten Schulmädchen im Bewusstsein ist. Doch auf sein Lebenswerk bezogen, sind sie nicht mehr als ein – wenn auch grandioser – Anfang.

Schon Ende der 1940er Jahre werden zahlreiche Zeichnungen in Magazinen und Zeitungen wie Tatler, Lilliput oder News Chronicle veröffentlicht. Um 1950 beginnt er eine intensive Zusammenarbeit mit dem traditionsreichen Punch und entwirft darin wie fast zweihundert Jahre zuvor Thomas Rowlandson ein facettenreiches Sittenbild der englischen Gesellschaft. Er illustriert die großen Klassiker seines Landes, allen voran Charles Dickens, gründet seinen eigenen Verlag und arbeitet für die Werbung. So zählen seine Plakate, die er während einer elfjährigen Kampagne für die Rum-Marken Lemon Hart und Lambs Navy Rum entwirft, zu Beginn der 1950er Jahre zu den ersten, ganze Häuserfassaden abdeckenden Großplakaten im Londoner Stadtbild. Als 1960 der Penguin Verlag eine Auswahl seiner bis dahin entstandenen Karikaturen und Cartoons veröffentlicht, ist im Vorwort deshalb zu lesen: „Keiner, der noch nicht von Ronald Searle gehört hätte; ganz Großbritannien wird zur Mitte des Jahrhunderts von Searle geradezu heimgesucht. Von dem kleinen Mädchen, das gerade St. Trinian’s verlässt, bis hin zum Mann am Ende des Bahnsteigs, der zufällig der dicke Mann von dem Rum-Plakat ist, gibt es kein Entrinnen.“ Parallel ist Ronald Searle als Reportagezeichner unterwegs; seine ersten Reisen auf den Kontinent sind auch Versuche, das Loch des Nichtwissens zu schließen, das die Zeit der Gefangenschaft hinterlassen hat. 1949 veröffentlicht er sein berühmtes Paris Sketchbook und 1960 Refugees, eine erschütternde Dokumentation seiner Reisen in vorwiegend südosteuropäische Flüchtlingslager, die er 15 Jahre nach Kriegsende im Auftrag des UN-Hochkommissars für Flüchtlingsfragen unternommen hatte. In den 1960er Jahren ist er im Auftrag des Süddeutschen Rundfunks zusammen mit dem Schriftsteller Heinz Huber auch in Deutschland unterwegs. Als Ergebnis dieser Deutschland-Reisen veröffentlicht er 1966 das Buch Haven’t We Met Before Somewhere?

Einen besonders wichtigen Einschnitt in seinem Lebenswerk bildet das Jahr 1961. Ronald Searle begibt sich im Auftrag der amerikanischen Zeitschrift Life nach Jerusalem, um einen Monat lang den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann zu verfolgen. Was Fotos andeuten, Prozessakten dokumentieren und wovon Prozessteilnehmer berichten, wird in Searles Zeichnungen, zumal beim Durchblättern seines Skizzenbuchs, fast physisch spürbar: Das unbewegte, kalte und zynische Verhalten Eichmanns während des ganzen Prozesses, die erschütternde Begegnung mit der von Hannah Arendt so treffend bezeichneten „Banalität des Bösen“.

Bis in die Gegenwart prägen viele Facetten die Arbeit von Ronald Searle: Er ist berühmt für sein vergnügliches Bestiarium, in dem Katzen von Fisch anstatt von süßen Desserts träumen, Mäuse auf Motorrädern die Welt erobern und Eulen auch in bunten Ringelsocken ihre stoische Ruhe nicht verlieren. Seine kurzen Trickfilme aus den 1970er Jahren und sein Einfluss auf den Animationsfilm dagegen sind vielen unbekannt, wie auch die Fülle seiner Illustrationen für Herald Tribune oder The New Yorker in den 1980er und 1990er Jahren und die knapp 200 politischen Karikaturen, die Searle von 1995 bis 2008 mindestens einmal pro Monat für die französische Tageszeitung Le Monde zeichnete. Alle Aspekte seines Werkes dokumentieren die über 2000 Zeichnungen des Vorlasses von Ronald Searle, den die Stiftung Niedersachsen Ende 2010 mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Sparkassen-Finanzgruppe mit der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, der Sparkasse Hannover, den VGH Versicherungen und der Nord/LB sowie des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur und der Landeshauptstadt Hannover erworben und dem Deutschen Museum für Karikatur und Zeichenkunst – Wilhelm Busch als Dauerleihgabe übergeben hat. Dieser Vorlass bildet zusammen mit der dem Museum bereits gehörenden, wissenschaftlich ausgerichteten reichen Bibliothek des Künstlers, seiner Sammlung historischer Karikaturen und seinem Archiv eine unschätzbare, einzigartige Grundlage für die Erforschung der satirischen Kunst der Moderne – und natürlich reichlich Material für spannende Ausstellungen!