Ganzheitliche Bildung im Zeichen der Ökonomisierung

THOMAS KRÜGER:

Einen schönen guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich darf zunächst meine beiden Gesprächspartner kurz vorstellen: Zu meiner Linken sitzt Herr Wolowicz. Er ist Jahrgang 1953, kommt aus dem schönen Aschau, hat Politische Wissenschaft und Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studiert, 1978 mit dem M.A. abgeschlossen und dann promoviert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der SPD-Stadtratsfraktion in München und hat München eigentlich nie losgelassen. Er hat das Büro des Oberbürgermeisters geleitet und ist seinem Vorgänger, Herrn Jungfer, dann als Stadtkämmerer der Landeshauptstadt München gefolgt.

Neben ihm sitzt Herr Grosse-Brockhoff, Jahrgang 1949. Er kommt aus Bonn und studierte ab 1968 Rechtswissenschaften und Geschichte in Bonn und Lausanne, war dann in verschiedenen Funktionen unterwegs: Nach dem 2. Juristischen Staatsexamen begann er eine Doktorarbeit im Staatskirchenrecht bei Paul Mikat an der Universität Bochum und war dann freiberuflich – und das zeichnet nur wenige Politiker aus – im Buchhandel tätig, sowohl als Teilhaber als auch als Geschäftsführer. Er ist dann in verschiedenen Positionen als Kulturamtsleiter in Neuss und bei der Stadtverwaltung in Düsseldorf unterwegs gewesen, Stadtdirektor in der Stadt Neuss, er wurde Kulturdezernent der Landeshauptstadt Düsseldorf und übernahm dann auch das Schuldezernat. Für uns gibt es also kaum einen prädestinierteren Gesprächspartner als ihn, der sowohl Erfahrungen im Bereich von Kultur als auch von Schule hat. Im Jahr 2005 ist er dann Chef der Staatskanzlei und Staatssekretär für Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen geworden und wirkt seit 2006 als Staatssekretär für Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen, des größten Bundeslandes in Deutschland.

Wir sind sehr gespannt auf dieses Gespräch, Herr Grosse-Brockhoff, Herr Wolowicz, und ich möchte vielleicht, Herr Grosse-Brockhoff, mit Ihnen anfangen: Wo beginnt für Sie kulturelle Bildung und wo hört sie auf?

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Sie überschneidet sich zwischen den Bereichen Kultur, Schule und Jugend, woraus wir übrigens die Konsequenz gezogen haben, dass wir jetzt einen interministeriellen Arbeitskreis per Kabinettsbeschluss initiieren wollen, damit alle drei Häuser an diesem Thema arbeiten, weil die Kultur es eben nicht alleine kann. Es geht um kulturelle Bildung, und die fängt im ganz normalen Schulunterricht an, ist aber in den vergangenen Jahrzehnten erheblich vernachlässigt worden, ich behaupte: quer durch alle Schichten, in fast allen Elternhäusern, immer die berühmten Ausnahmen ausgenommen. Und deswegen haben wir so einen großen Nachholbedarf, und den stoßen wir jedenfalls in Nordrhein-Westfalen – ich sehe das aber auch bundesweit so – seitens der Kultur an, nehmen aber eben zunehmend auch die anderen Ressorts in die Pflicht. Im Kindergarten fängt es an, geht in die Grundschule und dann in die weiterführenden Schulen, nie zu vergessen die berufsbildenden Schulen, die auch dazu gehören. Und ich finde, irgendwann muss es vielleicht auch einmal die Universitäten und die Hochschulen erreichen.

THOMAS KRÜGER:

Kein schlechter Vorschlag, ich will vielleicht an einer Stelle mal nachfragen: Der Bereich der Kultur kann ja unterschiedlich breit definiert werden. Ich kann das aus eigener Erfahrung als Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks in meinem Ehrenamt sagen, aber auch aus meiner jetzigen Funktion in der Bundeszentrale für politische Bildung, wo wir sehr stark aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen denken. Es ist dort schwierig mit den Grenzziehungen. Gehört für Sie der ja recht breite medienpädagogische Ansatz, der Umgang mit Film, mit Computerspielen, der Umgang mit verschiedenen medialen Fragestellungen zu diesem Feld der kulturellen Bildung dazu?

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Absolut! Alle Medien, einschließlich der Spiele, der Games, haben wir in der Kultur vielleicht viel zu lange vernachlässigt. Da haben wir Nachholbedarf. Bei uns auf Regierungsebene ressortiert der kulturelle Film bei mir, zum Glück aber auch in der Staatskanzlei, sodass wir da kurze Wege haben, ansonsten gibt es die Filmförderung. Wir in Nordrhein-Westfalen legen gerade auch großen Wert auf Einbeziehung der gesamten Filmkultur. Bei Games ist zum Beispiel bisher noch wenig geschehen. Aber das haben wir inzwischen zumindest als Aufgabe erkannt.

THOMAS KRÜGER:

Es gibt ja auch bedeutende Fachleute, beispielsweise Dieter Baacke, der sehr viele Standards im Bereich des Umgangs mit Medien für die praktische Arbeit auch im kulturellen Bildungsbereich gesetzt hat.
Herr Wolowicz, ich komme, anknüpfend an das gestrige Wort von Herrn Ude „nice to have“, zu den harten Finanzierungsfragen: Was macht ein Stadtkämmerer in Zeiten, in denen ihm die Steuermittel ausbleiben, mit „nice to have“? Wird das ‚abgeknipst’ oder überlegen Sie sich künstlerische Handgriffe, um die Finanzen für die in München – das haben wir ja gestern mehrfach gehört – doch recht erfolgreiche Arbeit auf diesem Feld der kulturellen Bildung zu sichern?

ERNST WOLOWICZ:

Zur Finanzsituation der Stadt München ist zu sagen, dass unsere im Vergleich zu der der meisten anderen deutschen Großstädten noch relativ gut ist, aber München ist keine Insel der Seligen. Auch wir haben heftige Rückgänge bei unseren wichtigsten Steuereinnahmen: die Gewerbesteuer im Vergleich zur ursprünglichen Schätzung: minus 230 Millionen Euro in diesem Jahr. Wir werden auch zunehmend Rückgänge bei unseren Einnahmen aus der Einkommenssteuer haben, weil sie mit der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten, mit den Einkommen von Arbeitnehmern und mit der veranlagten Einkommenssteuer für Personengesellschaften zusammenhängt. Ich rechne allein für dieses Jahr mit einer Unterschreitung des ursprünglichen Haushaltsansatzes von 50 Millionen, also fehlen uns knapp 300 Millionen Euro im Vergleich zur ursprünglichen Haushaltsplanung. Wir hatten ursprünglich einen Überschuss von 290 Millionen bei den laufenden Ausgaben. Der ist auf ein Zehntel zusammengeschmolzen, auf derzeit 29 Millionen.

Jetzt zur Frage, was für eine Bedeutung Kultur im weitesten Sinne hat: Dazu rechne ich Schule, Kultur und Erwachsenenbildung in unserem Haushalt. Es ist so, dass der Anteil an den Budgets unserer Referate im Jahr 2000 über 27 Prozent war. Im Jahr 2008 sind es 33,6 Prozent, also hat der Münchner Stadtrat in den letzten acht Jahren kontinuierlich den Anteil der Ausgaben für Schule, für Kultur, für Erwachsenenbildung von ursprünglich 27 Prozent auf jetzt 33,6 Prozent im Jahr 2008 erhöht. Dieses Jahr sind es noch mehr als 33,6 Prozent.

THOMAS KRÜGER:

Ist das nur prozentual mehr oder auch „cash“?

ERNST WOLOWICZ:

Das ist auch „cash“ mehr, weil der Gesamthaushalt im Vergleich zum Jahr 2000 in München gestiegen ist.
Jetzt zu den Auswirkungen der Finanzkrise: Es wird so sein, dass ich dem Stadtrat vorschlagen muss, in diesem Jahr eine Nettoneuverschuldung von 40 Millionen aufzunehmen. Das ist lächerlich im Vergleich zu dem, was manche Bundesländer oder die Bundesrepublik Deutschland an Nettoneuverschuldung in diesem Jahr haben werden, aber im nächsten und im übernächsten Jahr wird es München auch sehr stark treffen. Die wahrscheinliche Netto-Neuverschuldung im nächsten Jahr und auch im übernächsten Jahr wird 200 bis 300 Millionen betragen, weil wir unsere Investitionen auf hohem Niveau halten wollen. Wir leisten uns seit 1990 den besonderen Luxus, antizyklische Finanzpolitik zu praktizieren, bevor dies im letzten halben Jahr Mode geworden ist. Wir machen das kontinuierlich seit 18 Jahren. Das heißt: Auch in Krisensituationen sparen wir nicht bei den Investitionen, sondern nehmen notfalls Kredite auf, um die Investitionen auf hohem Niveau zu halten. Das ist vielleicht auch interessant: Unsere aktuelle Haushaltsplanung für die Jahre 2009 bis 2013 sieht vor, dass wir für den Bereich Schule, Kultur, Erwachsenenbildung 31 Prozent der Gesamtinvestitionen verwenden, also ist knapp ein Drittel der Investitionen der nächsten fünf Jahre für diesen Bereich vorgesehen. Da wird es auch keine Abstriche geben, weil wir notfalls auch wieder in eine Neuverschuldung einsteigen, wahrscheinlich unter heftiger Kritik der Minderheitsfraktionen im Stadtrat, aber wir halten das durch.

THOMAS KRÜGER:

Herr Wolowicz, wir haben jetzt die günstige Situation, einen reichen Stadtkämmerer hier am Tisch zu haben, aber vielleicht können Sie, auch mit Blick auf die Kommunen und Städte, die nicht über diese Spielräume verfügen, uns noch einmal das Problem näher vor Augen halten, wie wir eigentlich mit der kulturellen Bildung in der Zukunft umgehen müssen. Es gibt ja einen hohen Grad an gesetzlich verbindlichen Leistungen, die von den Kommunen zu erbringen sind. Und je angespannter die Haushaltslage, desto schwieriger sind diese sogenannten „freiwilligen Bereiche“ zu finanzieren. Ist nicht vor diesem Hintergrund relevant und wichtig, zu überlegen, die kulturelle Bildung dort, wo die Möglichkeiten bestehen, unter gesetzlichen Leistungen zu subsumieren und nicht einfach den abschmelzenden „freiwilligen Leistungen“ anheim zu geben?

ERNST WOLOWICZ:

Ich sage es ganz offen: Ich halte nichts davon, den Bereich der gesetzlichen Leistungen auszudehnen, weil es dann nicht nur Bestrebungen gibt, den Bereich kultureller Bildung zur Pflichtaufgabe zu machen, sondern da wird es viele weitere Bereiche geben und die jeweiligen Interessengruppen werden sehr erfindungsreich sein – auch die Politiker –, zu definieren, was eigentlich noch alles Pflichtaufgabe der Kommunen ist.

THOMAS KRÜGER:

Müsste man dann nicht umgekehrt, um sich Spielräume zu erarbeiten, sagen: Wir müssen gesetzliche Leistungen abbauen?

ERNST WOLOWICZ:

Ich bin strikt dagegen. Ich muss das mal jetzt etwas zugespitzt formulieren: Die Bundesrepublik Deutschland hat sich durch Steuerreformen in den letzten 15 Jahren systematisch „entreichert“. Die Öffentliche Hand hat sich durch diese Steuerreformen selber Handlungsspielraum entzogen. Die Bundesrepublik Deutschland ist der einzige Staat unter den OECD-Staaten, in dem in den Jahren 1998 bis 2007 die Ausgabenquote am Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt minus 0,2 Prozent zurückgegangen ist, was also den Anteil der Ausgaben der Öffentlichen Hand am Bruttoinlandsprodukt betrifft. Das waren politisch gewollte Entscheidungen, wir kennen alle die liberalen Formeln, die es dazu gibt: Privat vor Staat, Staat soll privatisieren, Staat soll Steuern reduzieren. Wir leiden jetzt strukturell natürlich unter den Folgen, dass die Bundesrepublik Deutschland der Staat unter den OECD-Staaten ist, der an vorletzter Stelle bei der Steuerquote steht, das sind 22 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, nur Österreich hat weniger. Wir sind der Staat, der die zweitgeringste Investitionsquote unter den OECD-Staaten hat, eine Investitionsquote von 1,5 Prozent der Öffentlichen Hand am Bruttoinlandsprodukt, Durchschnitt der 15 EU-Staaten ist 2,9 Prozent, dies einfach ein paar Fakten dazu. Durch politisch gewollte Entscheidungen, auch durch die wieder legitimierten Entscheidungen – die Politiker sind ja gewählt worden –, hat der Staat auf einen Teil des Kuchens Bruttoinlandsprodukt bewusst verzichtet, um Bürger steuerlich zu entlasten. Und weil das noch nicht reicht, haben jetzt Bundestag und Bundesrat die sogenannte Schuldenbremse beschlossen, mit dem Ziel, dass sich der Bund ab dem Jahr 2016 nur noch in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschulden darf und dass die Länder ab dem Jahr 2020 überhaupt keine Schulden mehr aufnehmen dürfen: Das sind ungefähr neun Milliarden Euro im Jahr. Das in einer Zeit, in der der Bund in diesem Jahr eine Nettoneuverschuldung real – das ist ja noch geschönt – derzeit von über 100 Milliarden haben wird, voraussichtlich auch im nächsten Jahr. Die Politiker versprechen: Wir arbeiten jetzt auf die Schuldenbremse hin und dass der Bund ab dem Haushaltsjahr 2011 vorbereitet, dass im Jahr 2016 nur noch eine Verschuldung von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht wird. Ich halte es für aberwitzig, was die Politik, zusätzlich jetzt im Wahlkampf, auch noch an Steuererleichterungen verspricht. Ich bin mir relativ sicher, dass es nach den Bundestagswahlen, egal, wer regiert, Steuererhöhungen geben wird.

THOMAS KRÜGER:

Herr Grosse-Brockhoff, wie sieht das aus Ländersicht aus?

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Also, um zum Thema kulturelle Bildung und ihre Finanzierung zu kommen: Wir haben es mit einem Problem zu tun, das einerseits die Kultur betrifft und von dieser auch zur Zeit angegangen wird. Kultur ist Aufgabe der Kommunen und der Länder. Auf der anderen Seite aber ist Kultur eine Bildungsfrage und damit auch Gegenstand von Bildungspolitik, die dafür bisher, jedenfalls in meinem Land, viel zu wenige Ressourcen zur Verfügung stellt. Übrigens auch in der Schule, was eben – und da haben wir ja gestern auch von Nordrhein-Westfalen erschreckende Zahlen zu sehen bekommen (Claudia Schaffer, Zahlen und Fakten, Anm. d. Red.) – den normalen musischen ästhetischen Unterricht in der Schule angeht. Ich glaube, dass es im Moment die Aufgabe von Kommunen und Ländern gemeinsam ist, sich zu verbünden, um durch Vorexerzieren, durch Beispiele wie diesen Kongress, den für Bildung Verantwortlichen klarzumachen, dass kulturelle Bildung bzw. ästhetische Erziehung ein selbstverständlicher Bestandteil von Bildungspolitik sein muss. Und, mit Verlaub, damit ist es dann auch ganz wesentlich eine Aufgabe der Länder, die diese Aufgabe zu stemmen haben. Wobei ich die Kommunen nicht ausnehmen möchte: Wir machen das im Moment so – und das funktioniert zwischen Kommunen und Ländern auch –, dass wir zu 80 bis 90 Prozent die von uns angestoßenen Projekte finanzieren, aber die Kommunen mit ins Boot holen. Und ich glaube, dass das ein ganz guter Schlüssel ist, natürlich für uns als Land sehr teuer, aber wir sollten uns keine Illusionen machen: Es muss eben auch letztlich – in fünf Jahren sind wir da vielleicht weiter oder sollten wir weiter sein – entsprechende Etatpositionen in den Bildungshaushalten geben. Da ist grenz-, sprich ministerienübergreifende Arbeit auf diesem Gebiet gefordert.

THOMAS KRÜGER:

Herr Grosse-Brockhoff, die Föderalismuskommission hat ja die Grenzziehung schärfer vollzogen, was die Zuständigkeit für den Bildungsbereich ist. Ich beobachte eigentlich in der Folge eine Zunahme der Sonntagsreden, die die Bildung stärker gewichten, aber einen nominellen Rückgang der Anstrengungen im Bildungsbereich, wenn man die Gesamtausgaben und auch die Aktivitäten von Bund, Ländern und Kommunen vor der Föderalismusreform den Leistungen von Ländern und Kommunen nach der Reform gegenüberstellt. Die Frage: Schaffen die Länder das überhaupt, dieser Herausforderung gewachsen zu sein, und geht nicht die Schere zwischen Versprechungen und tatsächlich eingelöster Stärkung der Bildung in den öffentlichen Etats der Länder eher auseinander?

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Wie immer ist es eine Frage der Prioritätensetzung: Will ich das? Und wir in Nordrhein-Westfalen haben zum Glück einen Ministerpräsidenten, der diese Priorität will: kulturelle Bildung als selbstverständlichen Bestandteil von Bildung. Und dann geht es auch! Und für Nordrhein-Westfalen – zu den bundesweiten Zahlen kann ich nichts sagen – kann ich Ihre These nicht bestätigen. Bei uns wachsen zwei Etats: Ganz wesentlich der Schuletat: Wir haben gerade vorgestern im Kabinett noch einmal 900 zusätzliche Lehrerstellen beschlossen. Das heißt, wir haben jetzt in viereinhalb Jahren 8.000 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen. Das sind erhebliche Gelder in Milliardenhöhe, die zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Der gesamte Kulturförderetat verdoppelt sich in Nordrhein-Westfalen in dieser Legislaturperiode und wir haben den letzten Schritt, den fünften Schritt, gerade eben im Kabinett am Dienstag beschlossen – trotz der gegenwärtigen Finanzkrise, weil es einfach diese Prioritätensetzung gibt. Und wenn ich bedenke, dass 900 neu geschaffene Lehrerstellen round about 450 bis 500 Millionen an Kosten bedeuten: Wenn davon nur ein Bruchteil in die kulturelle Bildung gelenkt würde – und das müssen wir schaffen –, dann müssten die Ressourcen auch in den jetzigen Schuletats vorhanden sein. Es geht wirklich um die Frage der Prioritätensetzung. Mit den Kommunen müssen wir uns darüber unterhalten, welchen Anteil sie übernehmen, indem sie auch Leistungen der kommunalen Kultureinrichtungen oder kommunal finanzierten Kultureinrichtungen in den Deal einbringen.

THOMAS KRÜGER:

Eine Nachfrage hätte ich dann doch noch: Stichwort G8. Das heißt, das Programm, was Schülerinnen und Schüler zu absolvieren haben, soll in einem Jahr weniger abgeleistet werden. Ist es da nicht schwierig, ein für den schulischen Betrieb relativ neues Feld wie die kulturelle Bildung – sieht man mal von den Fächern Kunst und Musik ab – noch zusätzlich in den Schulalltag zu integrieren, wo doch insgesamt eher die Curricula entschlackt werden?

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Sie haben recht, dass wir im Moment, gerade auch in der Übergangszeit, mit G8 eine Verdichtung haben. Aber wir haben eine klare Tendenz zur Ganztagsschule in allen Schulformen, auch in den weiterführenden Schulen, sodass ich prophezeie, dass hier in Deutschland in fünf bis zehn Jahren die Ganztagsschule die Regelschule sein wird. Es wird immer dort Ausnahmen geben, wo Eltern das nicht wollen, ich finde, diese Freiheit sollten Eltern haben. Aber wir werden über den Ganztag auch wieder ein größeres Zeitbudget bekommen. Was wir nicht haben, ist ausreichendes Personal, das hierfür geschaffen werden muss, und ich bin der Meinung, dass – weil Bildungspolitik mittelbar, einschließlich der kulturellen Bildungspolitik, auch eine Wirtschaftsentwicklungspolitik ist – vielleicht mal der Wirtschaftsetat oder andere Etats schrumpfen müssen. Denn meines Erachtens trägt die kulturelle Bildung auch dazu bei, dass die Gesellschaft sich insgesamt entwickelt. Ich glaube, dass wir zu keiner Zeit mehr auf Kreativität angewiesen waren als heute. Im berühmten globalen Wettbewerb sind wir einfach in einer Weise auf Innovation angewiesen wie noch nie. Beschäftigung mit den Künsten und mit der Kultur schafft immer noch die beste Voraussetzung für das Entstehen von Kreativität. Deswegen: Kulturelle Bildung muss Priorität Nummer eins sein. Ich sehe, dass das in Nordrhein-Westfalen der Fall ist – noch nicht perfekt, aber ich glaube, dass wir da auf einem guten Weg sind.

THOMAS KRÜGER:

Vielen Dank. Wir kommen noch mal, Herr Wolowicz, zu Ihnen als Stadtkämmerer, und ich würde Sie gerne genau zu dieser Thematik des Verhältnisses von Stadt und Land befragen wollen. Erstens: Sind Sie denn mit der Aktivität des Freistaats auf diesem Feld der kulturellen Bildung zufrieden? Und zweitens: Man hört immer mal wieder, dass Künstlerinnen und Künstler aus München und Nürnberg an den Landesprogrammen, also denen des Freistaats, tendenziell eher nicht partizipieren können, wenn sie nicht bereit sind, ihren Wohnsitz außerhalb der Städte zu verlegen. Was ist denn das für ein Zusammenspiel von Freistaat und Städten?

ERNST WOLOWICZ:

Ich sage gleich etwas zum Thema Freistaat Bayern und Landeshauptstadt München, aber mich reizt schon, etwas in dieser Runde zum Thema Möglichkeitssinn und Realitätssinn zu sagen: Ich halte beides für wichtig. Zunächst mal zum Möglichkeitssinn: Wenn wir uns hier unterhalten: Sie sind alle Fans der kulturellen Bildung, soweit so gut. Wir könnten dasselbe Forum mit Sozialpolitikern abhalten, die sagen würden: Priorität Sozialpolitik. Wenn man dasselbe Forum mit Umweltpolitikern machen würde, würden auch alle sagen: Wir haben zwar Krise, aber Priorität muss, gerade in der Krise, die Ökologie haben. Ich könnte es noch weiter ausführen. Ich wehre mich etwas gegen diese selektive Wahrnehmung der Realität. Realität ist, dass wir in der schwersten Rezession der Nachkriegsgeschichte sind, dass wir in einer Phase sind, in der die Öffentliche Hand zur Rettung des Banken- und Finanzwesens eine Neuverschuldung haben wird, die wir in der Nachkriegsgeschichte noch nicht gesehen haben. Die Zeche für diese Neuverschuldung werden alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande durch Zins und Tilgungen in den nächsten Jahren zahlen müssen. Und dann sagen alle Politiker immer, man muss Prioritäten setzen.
Zum Thema Bundesrepublik Deutschland und Bildung einfach ein paar Fakten: Der Anteil der Bildungspolitik am Bruttoinlandsprodukt ist von 6,5 Prozent im Jahr 1995 auf 6,3 Prozent im Jahr 2005 zurückgegangen. Der Teilbereich öffentliche Ausgaben für Bildung hatte einen Anteil am Bruttoinlandprodukt in Deutschland 1975: 5,1 Prozent, 1990: 3,7 Prozent, 2008: 3,7 Prozent, es ist also ein starker Rückgang zu verzeichnen. Das ist die Realität und das sind die Fakten. Und alle Politiker, egal in welchem Forum sie sind, werden sagen: „Selbstverständlich, hat doch der Oberbürgermeister gestern gesagt: Auch in Zeiten der Krise darf man nicht ausgerechnet im Bereich kulturelle Bildung oder Kultur oder Bildungspolitik oder Schulpolitik sparen.“ Wir werden in der Realität der nächsten Monate und Jahre sehen – und da empfehle ich Ihnen einfach mal die Haushalte des Bundes und der Länder, der Kommunen einschließlich München anzuschauen –, wie dann tatsächlich von den Politikern die Prioritäten gesetzt werden. Es wird Sparmaßnahmen bei Ländern geben, bei Gemeinden, auch bei München, es wird beim Bund Sparmaßnahmen geben und es wird, das habe ich vorhin schon gesagt, höchstwahrscheinlich Steuererhöhungen geben. Man sollte nicht glauben, dass die kulturelle Bildung jetzt in einem Nischendasein ist, wo sie von allgemeinen wirtschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen nicht tangiert wird. Es ist eine Nischenstrategie: Wir sind etwas Besonderes, bei uns darf man nicht sparen, bei allen anderen darf man sparen. Das halte ich für sehr schwierig, weil die Politiker gar nicht allen alle Wünsche erfüllen können. Und wenn Politiker sagen: „Wir setzen Prioritäten!“, dann muss man sie daran messen, ob sie das dann hinterher umsetzen und wie die Prioritäten tatsächlich aussehen. Eine Priorität dahingehend, dass man bestimmte Bereiche der Gesellschaft von vornherein aus den Aufgaben des Staates, der Öffentlichen Hand ausklammert und sagt: „Hier werden wir in den nächsten Jahren überhaupt nicht einsparen.“, halte ich auf die Dauer für unwahrscheinlich.

Jetzt aber zum Thema Landeshauptstadt München und Freistaat Bayern: Es ist bekannt, dass im Freistaat Bayern bis vor kurzem die CSU mit absoluter Mehrheit regiert hat und jetzt ein Kabinett aus CSU und FDP. Es ist auch bekannt, dass die Wählerschwerpunkte und Wählerinnenschwerpunkte der CSU in Bayern eher auf dem flachen Land liegen, bisher nicht in München, in Nürnberg und in Augsburg, also nicht in den großstädtischen Räumen. Deswegen beklage ich als Münchner Stadtkämmerer immer, dass die Region München und auch die Region Nürnberg bei vielen Programmen des Freistaates Bayern nicht angemessen, im Vergleich zum Bevölkerungsanteil, berücksichtigt wird. Wir sehen das jetzt auch beim Konjunkturpaket II: Nürnberg und München werden weit unterproportional im Verhältnis zur Einwohnerzahl berücksichtigt. Das heißt, wenn man die Finanzkraft von München und Nürnberg gegenrechnen würde, werden wir immer noch unterdurchschnittlich berücksichtigt. Diese Situation, dass gefordert wird, dass man den Wohnsitz aus Nürnberg oder München verlegt, um Förderungen zu bekommen, kenne ich als Kämmerer nicht im Einzelfall. Ich weiß nicht, ob unsere Kulturexperten dazu was sagen können, aber ich würde es wirklich für einen Skandal halten, wenn man sagt, dass man den Wohnsitz verlegen muss, um in den Genuss von Fördermitteln zu kommen.

THOMAS KRÜGER:

Gut, es ist mein Recht als Moderator, ein bisschen zuzuspitzen. Herr Grosse-Brockhoff, Sie haben eben gehört, dass sozusagen Nischenargumente oder Prioritätensetzung als Argument vielleicht nicht ausreichen. Welche kreativen Fähigkeiten hat denn kulturelle Bildung, um – wenn man so will – ressortübergreifend Kompetenzen zur Lösung der Finanzkrise und der Gewinnung von Zukunft in unserem Land beizutragen?

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Ich möchte zunächst einmal Ihnen, Herr Wolowicz, gern widersprechen, insofern, als dass ich natürlich weiß, dass in Krisen wie der derzeitigen alle Fachbereiche rufen – ich war auch mal stellvertretend ein Jahr lang Kämmerer: „Überall sparen, nur nicht bei mir!“. Das kennt man. Aber das darf einen nicht als Regierung – sei es in einer Kommune, sei es in einem Land – davon abhalten, auch Prioritäten zu setzen! Und wir tun dies und ich möchte dafür werben, dass wir tatsächlich als Gesellschaft überlegen, ob nicht die kulturelle Bildung als Bestandteil von Bildungspolitik absolut – und da nehme ich den Mund nicht zu voll, auch wenn es so klingt – Priorität Nummer eins sein muss, wenn wir die Zukunft bestehen wollen. Das ist meine klare Aussage zu dieser Thematik und unser Ministerpräsident sagt inzwischen sowohl öffentlich als auch – was ich viel wichtiger finde – hinter verschlossenen Türen in seinem Kabinett und seiner Fraktion: „Wenn ihr meint, jetzt in der Kultur sparen zu können, dann irrt ihr euch! Jetzt erst recht! In Kultur und besonders in kulturelle Bildung investieren, gerade in der Krise!“. Und wir müssen sehen, wie wir in anderen Bereichen sparen, wo sich meines Erachtens auch die Frage stellt. Innerhalb der Bildungspolitik müssen wir auch über Prioritätensetzung reden! Was mache ich in der Schule und muss ich der ästhetischen Erziehung in der Schule nicht möglicherweise auch zu Lasten anderer Bereiche mehr Priorität einräumen? Denn Wachstum wird in der Tat schwer werden, auch für Bildungsetats. Das haben wir in den letzten fünf Jahren in Nordrhein-Westfalen geschafft, aber das wird mit Sicherheit auch in Nordrhein-Westfalen in den nächsten fünf Jahren schwierig.

THOMAS KRÜGER:

Also, das mit der Prioritätensetzung haben wir jetzt verstanden, aber was ist, wenn der Umweltminister des Landes Nordrhein-Westfalen vom Abschmelzen der Pole spricht, sagt, das könne ja nun nicht in eine Nische gesetzt werden, und sich mit Ihrem Finanzminister zusammentut. Das ähnliche Phänomen hätten wir ja in München: Welche Argumente haben Sie denn inhaltlicher Art, für die kulturelle Bildung in den Ring zu steigen, außer der Prioritätensetzung?

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Ich würde dem Kollegen sagen, dass wir zum Beispiel mit kultureller Bildung, und insgesamt mit Bildung, überhaupt erst mal die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir auf intelligentere Lösungen im Umgang mit unseren Ressourcen kommen. Dass dafür Fantasie und Innovationskraft erforderlich sind und weniger das Geld eines Landesumweltministers. Der wird das Abschmelzen der Polkappen mit seinem kleinen Etat nicht bewältigen. Sondern wir werden es alle als Gesellschaft und auch als Wirtschaft, als umdenkende Wirtschaft nur gemeinsam schaffen, solche Probleme zu lösen, und ich finde, das ist nicht unbedingt eine Frage von öffentlicher Finanzierung, sondern von öffentlichem Denken.

THOMAS KRÜGER:

Herr Wolowicz!

ERNST WOLOWICZ:

Ich sage Ihnen, welcher Etat absolute Priorität haben wird: Der einzige Etat, der kontinuierlich wachsen wird, ist der Sozialetat. Weil die Arbeitslosigkeit steigen wird und die Armut steigen wird in diesem Land. Das heißt absolute Priorität, sei es beim Bund, sei es bei den Ländern und Gemeinden, wird der Sozialetat haben, da brauchen die Politiker gar keine Prioritäten zu setzen, weil die gesetzlichen Sozialleistungen in den nächsten zwei Jahren explodieren werden – und wenn wir Pech haben, dauert es länger. Das wird die absolute Priorität sein. Danach kann die Politik sich überlegen, was sie sonst für Prioritäten setzt, weil die Priorität Sozialpolitik mindestens die nächsten zwei Jahre objektiv durch die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen in diesem Land gegeben ist. Was ist die Priorität zwei nach den Sozialausgaben? Da bin ich mir sicher, dass wir auch hier Konsens haben werden: Kinder, Jugendliche und Bildung. Nachholbedarf haben wir speziell im Bereich der Kinderbetreuung unter sechs Jahren, Nachholbedarf im Schulwesen und riesigen Nachholbedarf im Universitätswesen, da sind wir uns ja einig. Und jetzt komme ich zum Entscheidenden: Es gibt neben diesen beiden Politikfeldern Sozialpolitik und – jetzt mal im weitesten Sinn – Schul-, Bildungs- und Kulturpolitik viele andere Politikfelder. Und da müssen die Politiker dann, wenn sie Prioritäten setzen wollen, allen anderen Bereichen sagen: Um angesichts der schwierigen Haushaltslage Einsparungsmaßnahmen finanzieren zu können, müssen wir in Euren Aufgabenbereichen Kürzungen vornehmen. Und diese Aufgabenbereiche werden weit zahlreicher sein als der Bereich Sozialpolitik und der Bereich Bildungs-/Kulturpolitik. Es gibt gar keinen Grund, an Ihren Worten zu zweifeln, Herr Grosse-Brockhoff, ich glaube Ihnen, dass Sie das für Nordrhein-Westfalen im Bereich der kulturellen Bildung tatsächlich so machen werden. Ich möchte nur allgemein darauf hinweisen: Die Neigung von Politikern – und da sind Sie jetzt nicht persönlich gemeint, Sie sind kein Politiker in dem Sinne, sondern Staatssekretär –, da wo sie sind, immer zu sagen: „Überall muss gespart werden, bei Ihnen aber nicht, Ihr Bereich ist besonders wichtig.“, das kann man vereinzelt tun, aber nicht pauschal für alle Politikbereiche. Mir macht es ja auch keinen Spaß, Einsparungsvorschläge zu machen. Ich hätte auch Lust – weil ich den gesellschaftlichen Bedarf sehe, nicht nur im Bereich der kulturellen Bildung, ich sehe viele gesellschaftliche Bedarfe –, in einer so relativ reichen Stadt wie München, wo es zum Beispiel über 150.000 Arme gibt, dort was zu tun, da gibt es genügend Handlungsmöglichkeiten, Handlungsnotwendigkeiten.

Man wird, wenn man Prioritäten setzt, auch den betroffenen Bevölkerungsgruppen, auch den betroffenen Interessenverbänden sagen müssen, in welchen Bereichen es Kürzungen gibt. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es auch im Land Nordrhein-Westfalen Politikbereiche geben wird, wo im Haushalt des nächsten und übernächsten Jahres Kürzungen vorgenommen werden müssen. Darum wird die Politik, darum werden die Parlamente nicht herumkommen. Ich möchte einfach nur an Sie appellieren – bei allem Verständnis dafür, dass aufgrund Ihrer Interessen, aufgrund Ihres beruflichen Engagements, aufgrund Ihres gesellschaftlichen Engagements der Bereich kulturelle Bildung natürlich wichtig ist und aus Ihrer Sicht auch die Priorität eins haben muss –, nicht aus den Augen zu verlieren, dass es ein sektoraler Bereich ist und dass es viele andere Bereiche gibt, die mit dem selben Engagement, vielleicht auch mit den selben objektiven Notwendigkeiten das Gleiche sagen werden. Und das wird dann das Problem der Politiker, auch das Problem der Verwaltung sein, Prioritäten zu setzen. Abstrakt klingt das gut, das dann aber durchzustehen, zu sagen, es gibt zwei, drei, vier Ausnahmebereiche, da gibt es Etatwachstum, und dort gibt es den Regelbereich, das sind dann zwanzig, dreißig, vierzig Bereiche, da gibt es Haushaltskürzungen – da wird es dann konkret werden.

THOMAS KRÜGER:

Herr Wolowicz, Sie spielen Ihre Rolle hervorragend, es war gut, Sie hierher einzuladen und uns auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Aber ich möchte ihm trotzdem widersprechen!

THOMAS KRÜGER:

Ja, Herr Grosse-Brockhoff, Sie kriegen gleich die Gelegenheit! Ich wollte Ihnen nur eine Steilvorlage geben und vielleicht das Argument…

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Brauche ich gar nicht!

THOMAS KRÜGER:

Ja, aber um das noch mal zu verstärken: Herr Grosse-Brockhoff, wir sind ja in der Situation, dass wir mit den Kämmerern, mit denjenigen, die für die Finanzen zuständig sind, diese Diskussion im Alltag immer wieder führen müssen. Nun können wir aber beobachten, dass in den letzten Jahren, was die kulturelle Bildung betrifft, ein überraschender Befund auf kommunaler Ebene, Länderebene und Bundesebene zu konstatieren ist: Dass nämlich zusätzliche Ressourcen mobilisiert worden sind, und nicht nur der Öffentlichen Hände, sondern gerade auch der privaten Hände, wenn ich an die vielen Stiftungen, an den Dritten Sektor, denke: die Stiftung Mercator, die Körber-Stiftung, die PwC-Stiftung, die Robert Bosch Stiftung: Alle setzen im Bereich der kulturellen Bildung, und das ist neu, mehr oder weniger große Schwerpunkte und versuchen auch, aus der Gesellschaft heraus dieses wichtige Handlungsfeld neu zu „promovieren“. Auf der Länderebene gibt es Programme – ich kenne das vom Land Berlin und weiß auch, dass es in Nordrhein-Westfalen Entsprechendes gibt –, die durch neue Budgets versuchen, die kulturelle Bildung in der Schule, aber auch die außerschulische kulturelle Bildung, schwerer zu gewichten. Der Bund ist mit einer Initiative in der Filmbildung, Vision Kino GmbH, tätig geworden, er ist mit der europäischen kulturellen Bildung, Stichwort Stiftung Genshagen, initiativ geworden, er ist mit weiteren Initiativen in diesem Feld unterwegs, ohne zu fragen, ob das denn alles Ländersache ist. Und es ist offenbar nicht umstritten, wenn zusätzliche Mittel kommen, diese auch für dieses Aufgabenfeld einzusetzen. Ich frage jetzt auch wegen der vielen Praktiker hier im Raum: Brauchen wir nicht ein besseres Miteinander dieser neuen Förderinstrumente für die Praxis der kulturellen Bildung über die eigenen Zuständigkeiten der Kommunen und Länder mit dem Bund hinaus?

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Wir brauchen ein besseres Miteinander, aber ich möchte das bisherige Miteinander überhaupt nicht niedrig reden, ich finde es nämlich schon ganz fantastisch, was hier stattfindet: Etwa die Stiftungen, etwa, dass die Bundeskulturstiftung zehn Millionen Euro in unser Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ gesteckt hat und es damit überhaupt möglich gemacht hat, uns animiert hat, das Gleiche dazu zu geben, vor allen Dingen aber uns in die Zange zu nehmen, es fortzuführen in die Zukunft. Dazu haben wir uns verpflichtet und zu dieser Verpflichtung stehen wir auch! Wir haben das jetzt auch schon in die Haushaltsplanungen einbezogen und erste Schritte unternommen, um dieses Projekt nicht nur im Ruhrgebiet fortzuführen, sondern auf ganz Nordrhein-Westfalen auszuweiten. Dazu gibt es bei uns inzwischen auch Landtagsbeschlüsse.

Aber, dass so viele sich mit dieser Frage im Moment beschäftigen, zeigt doch, dass offensichtlich etwas bisher in unserem Bildungssystem nicht stimmt und dass es einen brennenden Bedarf nach mehr kultureller Bildung gibt! Und da möchte ich an die Adresse eines Kämmerers genauso wie eines Finanzministers, mit dem ich zum Glück in Nordrhein-Westfalen wirklich kein Problem habe, weil er das ganz ähnlich sieht, sagen: Ich muss – gerade in einer solchen Krisenzeit wie dieser, in der mit Sicherheit die Sozialhaushalte am meisten ansteigen werden, und wir haben alle noch nicht realisiert, was da auf uns zukommt, auch an einschneidenden Maßnahmen – auch in einer solchen Krise die Kraft haben, zu sagen: Wo kann ich mit relativ geringem Mitteleinsatz Zukunft wirklich gestalten, um solche Krisen zu bewältigen, die ja letztlich den Beweis angetreten haben, dass bei uns offensichtlich nur noch materielle Werte eine Rolle bei manch einem Spitzenfunktionär in der Wirtschaft gespielt haben,  dass wir in einer solchen Zeit über Bildung dazu kommen, dass es vielleicht solche Krisen künftig nicht mehr geben wird. Und da kann es doch hochintelligent sein, in einen Bereich zu investieren, trotz aller Sparmaßnahmen, der nur einen Promillebetrag der Gesamthaushalte ausmacht. Mein Gesamtetat liegt im Promillebereich des Landesetats!

Natürlich muss ich für meinen Ministerpräsidenten immer kräftig Werbung mache, aber ich sage es trotzdem, meine Damen und Herren: Ich finde es ausgesprochen intelligent, in einer Krisenzeit, in der Nordrhein-Westfalen übrigens auch vor fünf Jahren war, was die finanzielle Situation angeht, zu sagen: „In diesem Bereich verdoppele ich!“. Und wenn wir das noch mal ganz speziell bei der kulturellen Bildung tun, dann sind es prozentual geringste Beträge und ich muss die Kraft haben, einerseits in anderen Bereichen, vielleicht auch innerhalb unseres Bildungswesens, massiv einzuschneiden, da aber gegenzusteuern und relativ kleine Beträge zusätzlich zu geben. Das ist meines Erachtens gefordert, um nicht zuletzt die nötige Kreativität und Innovationskraft zu gewinnen, Krisen wie die jetzige zu vermeiden oder aber wenigstens durchzustehen.

THOMAS KRÜGER:

Ich will an Sie beide noch einmal eine abschließende Frage stellen: Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ hat in ihrem Abschlussbericht der kulturellen Bildung einen besonderen Stellenwert zugewiesen, allerdings auch auf Defizite hingewiesen. Ein Defizit beispielsweise ist der gesamte Bereich der Ausbildung, der Qualifizierung, der Fortbildung in diesem Bereich, um mehr Qualität, mehr Professionalität hinzubekommen. Ein zweites Defizit ist die Erarbeitung von adäquatem Schulmaterial, um Lehrkräfte zu unterstützen, übrigens auch fachfremde Lehrer, die in diesen Feldern unterwegs sind, besser als bisher zu unterstützen. Wir haben das gestern hier durch die Zahlen vor Augen geführt bekommen. Brauchen wir die Forderung dieser Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, so etwas wie eine Bund-Länder-Zentrale für kulturelle Bildung?

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Jetzt kommen wir aber auf ein ganz schwieriges Gebiet, nämlich das des leidigen Föderalismus, den ich in der Kultur übrigens nie kapiert habe. Ich habe nie kapiert, warum Kultur nicht Sache von Kommunen, Ländern und auch Bund sein kann. Warum es nicht gelingen konnte, die Kulturstiftung der Länder mit der Kulturstiftung des Bundes zu fusionieren, ist für mich unbegreiflich und grenzt irgendwo an Kleinstaaterei, zu der wir leider Gottes immer noch neigen. Wenn ich schon das Wort „Kulturhoheit“ höre, gehe ich an die Decke, weil ich gar nicht weiß, wo die eigentlich sein soll, diese Kulturhoheit, verdammt noch mal: Die muss in uns sein, die Kultur. Das ist das Entscheidende und das gilt übrigens auch für Politiker. Ich bin zwar, wie Sie zu Recht anmerken, Beamter, aber immer noch politischer Beamter, wie Sie, Herr Wolowicz, übrigens auch. Soviel Ehrlichkeit muss sein!

Aber um zu Ihrer konkreten Frage zu kommen: Ich finde es schon gut, dass solche Impulse wie sie Frau Völckers mit der Bundeskulturstiftung für „Jedem Kind ein Instrument“ gegeben hat, vom Bund ausgehen, dagegen habe ich überhaupt nichts. Und vielleicht könnten ja die Kulturstiftung der Länder und die Kulturstiftung des Bundes gemeinsam eine Institution schaffen, die das Erforschen von Möglichkeiten und Probeversuche finanziert, die hilft, dass wir wirklich an entsprechende Materialien herankommen. Nicht jedes Land und jede Kommune muss für „Jedem Kind ein Instrument“ seine eigenen Noten und sonstigen Anleitungen drucken und das Rad immer neu erfinden. Genauso finde ich, dass wir Wege finden müssen, wie wir unsere Erfahrung mit „Jedem Kind ein Instrument“ auf andere übertragen oder ihnen zumindest zugänglich machen. Da könnten die beiden Stiftungen in der Tat helfen. Ich würde immer taktisch empfehlen, dass sie es gemeinsam machen. Wenn das die Hortensia (Hortensia Völckers, Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, Anm. d. Red.) alleine macht, geht es sofort schief: nicht wegen Hortensia, sondern wegen der Kulturhoheit der Länder. Und deswegen kann das nur in einem Gemeinschaftswerk geschehen! Ich wäre da jedenfalls offen und finde das eigentlich eine fabelhafte Idee!

THOMAS KRÜGER:

Wir sollten das vielleicht als Vorschlag an die Länder und an den Bund geben. Diese haben ja gerade auf der Ebene der Schulpolitik die Bund-Länder-Kommission abgeschafft! Sie fordern sozusagen eine Bund-Länder-Kommission für kulturelle Bildung.

HANS-HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF:

Da ich Kommissionen hasse, bin ich der Letzte, der eine Kommission fordert! Aber irgendeine Institution, in der ein paar intelligente Menschen regelmäßig zusammenkommen, auch von „Hauptamtlern“ begleitet werden, die das umsetzen, das fände ich schon, sowohl ein Interesse der Länder als auch des Bundes und übrigens auch der Kommunen. Ich würde den Deutschen Städtetag und Städte- und Gemeindebund etc. nicht ausnehmen, ich würde sie immer mit einbeziehen, denn ich finde, kulturelle Bildung geht alle drei Ebenen an.

THOMAS KRÜGER:

Wunderbar! Herr Wolowicz!

ERNST WOLOWICZ:

Als geborener Bayer bin ich ja ursprünglich ein Fan des Föderalismus, ich werde aber immer skeptischer, wenn ich mir die Realität des deutschen Föderalismus anschaue. Beispiel dafür: Es ist aberwitzig: Als Hauptergebnis der „Föderalismuskommission 1“ wurde unter anderem gefeiert, dass der Bund keine direkten Zuschüsse an die Kommunen mehr geben darf. Der Bund muss jetzt riesige Verrenkungen veranstalten, um über das „Konjunkturpaket 2“ über die Länder dann den Kommunen überhaupt Mittel zukommen zu lassen. Aberwitzig! Dies soll ja jetzt als Ergebnis der „Föderalismuskommission 2“ geändert und abgemildert werden. Wenn ich mir anschaue, dass wir in diesem Land 16 Schulsysteme haben und dass, wenn eine Familie von einem Bundesland ins andere umzieht, die Kinder Schwierigkeiten haben, in den neuen Strukturen dann auch die Schule bestehen zu können… Ich halte es für aberwitzig, was wir uns an übertriebenem Föderalismus, speziell im Schulsystem, teilweise auch im Hochschulsystem, leisten! An dem Punkt sind wir uns beide einig: Ich bin dafür, auch dem Bund die Kulturhoheit zu geben, Kultur soll im weitesten Sinne auch in Zukunft Aufgabe des Bundes, der Länder und Gemeinden bleiben. Auch kulturelle Bildung muss in einem föderalen System immer von allen drei föderalen Ebenen getragen werden. Aber ich sehe wirklich größten Nachholbedarf darin, darüber nachzudenken, wie es in einem föderalen System geschafft werden kann, gemeinsame, zentrale Regelungen zu finden, innerhalb derer sich dann die Bundesländer – Beispiel Schulpolitik, Beispiel Hochschulpolitik – bewegen müssen, weil sonst Deutschland auch immer mehr Schwierigkeiten beim immer härteren Weltwettbewerb der Länder untereinander haben wird, auch bei den Hochschulsystemen auf Dauer mithalten zu können.

Ich kann mir nicht verkneifen, noch wirklich eine Schlussbemerkung zu machen: In Zeiten, in denen der Haushalt nicht wachsen wird, in denen die Steuereinnahmen zurückgehen, in denen der Haushalt in der Summe zurückgehen muss, würde ich gerne von jedem Politiker, von jedem Beamten – von jedem politischen Beamten – verlangen, dass er, wenn er einen konkreten Ausweitungsvorschlag macht, für den man immer Beifall bekommt, sofort den konkreten Reduzierungsvorschlag macht. Das wird aber normalerweise nicht reichen in der Sparpolitik, in der auch dann der Überkompensations-Reduzierungsvorschlag, der auch konkret sein muss, gleichzeitig gemacht werden muss. Ich sage es ganz offen: Mich nerven Politiker, die durch Talkshows reisen und bei Veranstaltungen zur jeweiligen Zielgruppe sagen: „Ich werde mich dafür einsetzen!“ oder: „In Ihrem Bereich wird nicht gespart werden, Ihr Bereich muss ausgeweitet werden.“ Das glaube ich immer erst dann, wenn ich mir den Haushalt der jeweiligen föderalen Ebene anschaue, ob das auch umgesetzt worden ist. Man kann dies machen. Das tun wir auch in München: Wir haben eindeutige Priorität im Bereich Schulpolitik, da wird der Haushalt auch in Krisenzeiten ausgeweitet werden, weiterhin. Wir haben uns ja antizyklisch, nicht nur bei den Investitionen, sondern auch bei den laufenden Ausgaben verhalten. Aber ich erwarte von den Politikern, wenn sie es ernst meinen, dass sie es dann auch umsetzen, wenn sie Ausweitungen versprechen. Da sind sie konkret, sie müssen dann aber auch gleichzeitig sehr konkret sagen, bei welchen anderen Aufgabenbereichen der jeweiligen föderalen Ebene sie in welcher Höhe, bei welchen konkreten Maßnahmen Einsparungen vornehmen, um das zu kompensieren. Und ich fürchte, das Kompensieren von Ausweitungen und Einsparen von Ausgaben reicht überhaupt nicht, sondern es muss – leider – durch Haushaltseinsparungen überkompensiert werden. Ich bin der Auffassung, dass man hier konkret werden muss, weil ich glaube, dass die Politik nur langfristig glaubwürdig wird – teilweise ist sie nicht mehr glaubwürdig –, wenn sie keine Versprechungen macht, die sie dann hinterher, nach Wahlen, nicht einlöst.

Ich habe es vorhin schon gesagt und es hat wirklich nichts mit Parteipolitik zu tun: Ich halte es für aberwitzig, jetzt vor den Bundestagswahlen Steuererleichterungen zu versprechen. Das tun fast alle Parteien, wohl wissend, dass aufgrund der Haushaltssituation höchstwahrscheinlich gar nichts anderes übrig bleiben wird, als Steuererhöhungen vorzunehmen, und ich fürchte, dass die Glaubwürdigkeit der Politik, die Glaubwürdigkeit der Demokratie Schaden erleidet, wenn man der Bevölkerung nicht reinen Wein darüber einschenkt, was sie erwartet und was Politik finanzieren kann. Dort wirklich Prioritäten zu setzen halte ich auch gerade in der Krise für notwendig, in dem Aspekt besteht zwischen uns beiden überhaupt kein Unterschied, als auch ich der Auffassung bin, dass es falsch wäre, wenn Deutschland, dessen einziger wertvoller Rohstoff der Geist, der Intellekt der Menschen, der Kinder und Jugendlichen, die jetzt ausgebildet werden, ist, dort spart. Im Gegenteil, ich habe ja vorhin die Zahlen genannt: Wir sind im Vergleich zu anderen Ländern innerhalb der OECD weit im Rückstand, wir sind beim öffentlichen Anteil am Bruttoinlandsprodukt weit unter dem Durchschnitt der OECD. Der OECD-Durchschnitt der Bildungsausgaben der Öffentlichen Hand am Bruttoinlandsprodukt ist 5,4 Prozent, Deutschland ist bei 4,5 Prozent. Um es jetzt konkret zu beziffern: Wenn jetzt Ihnen ein Politiker verspricht: Wir kommen auf den OECD-Durchschnitt, dann muss er Ihnen sofort sagen, wo er die 25 Milliarden Euro jährlich hernimmt, um diese Differenz auszugleichen. Konkretes Beispiel: Eine Mehrwertsteuererhöhung um vier Prozentpunkte, dann wird es konkret, dann glaube ich das den Politikern auch, aber abstrakte Floskeln wie „Bildungsrepublik Deutschland“ klingen ganz gut, man muss sie aber daran messen, was in den Haushalten in den nächsten Jahren passiert.

THOMAS KRÜGER:

Vielen Dank! Meine Damen und Herren, ich darf konstatieren, um Herrn Wolowicz’ Thesen aufzugreifen, dass wir auf dem Boden der Tatsachen bleiben sollen. Ich darf konstatieren, um Herrn Grosse-Brockhoffs Energie für die kulturelle Bildung zu versprachlichen, dass nicht das Ende des Tages, sondern der Anfang des Tages für die kulturelle Bildung eingeläutet ist und es sich dafür zu streiten lohnt. Ich darf ein bisschen erinnern, und das ist angesichts der Tatsache, dass wir es hier mit einem kommunalen und einem Landespolitiker – oder politischen Beamten – zu tun haben, dass der Satz von Kulturstaatsminister Naumann, der bezogen auf die Kultur von „Verfassungsfolklore“ sprach, offenbar auf der kommunalen und Landesebene seine ersten Wurzeln hinterlassen hat, und man über den Tellerrand zu blicken bereit ist. Das wollen wir alle gerne weiter verfolgen.

Ich darf Ihnen abschließend ein Zitat von Walter Benjamin in Erinnerung rufen, das vielleicht all das, was wir hier diskutiert haben, zusammenfasst: In der „Einbahnstraße“ sagt er: „In diesen Tagen darf sich niemand auf das verlassen, was er ‚kann’. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt werden.“ Also, rüsten Sie sich auf die linke Hand und auf die Zukunft der kulturellen Bildung! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!