Genie und Alltag

Auch heute noch ist das romantisch überhöhte Beethoven-Bild weit verbreitet: Der geniale Komponist sei in höchsten Sphären geschwebt, habe sich nahezu ausschließlich seiner Kunst widmen, sich auf die göttliche Inspiration verlassen können und demgemäß große Werke geschaffen. Das berühmte Beethoven-Porträt von Joseph Karl Stieler aus dem Jahre 1820 zeigt ihn nicht zufällig in der Pose des Evangelisten. Dieses vom – schon zu seinen Lebzeiten einsetzenden – Beethoven-Mythos geprägte Bild von der Lebenssituation des Komponisten ist aber schlicht falsch. Zwar haben wir Berichte, dass der Komponist gelegentlich über seiner Arbeit alles andere vergaß, nicht trank und aß oder Besucher nicht bemerkte. Das heißt aber nicht, dass er sich den Mühen des Alltags hätte entziehen können.

Josef Karl Stieler, Beethoven mit dem Manuskript der Missa solemnis, 1820; Beethoven-Haus Bonn; © Beethoven-Haus Bonn
Josef Karl Stieler, Beethoven mit dem Manuskript der Missa solemnis, 1820; Beethoven-Haus Bonn; © Beethoven-Haus Bonn

In welchem Spannungsfeld zwischen Kunst und Alltag Ludwig van Beethoven (1770 –1827) tatsächlich stand, lässt sich sehr anschaulich an einem Doppelblatt mit Notizen zeigen, das im April dieses Jahres versteigert wurde und für die Sammlung des Beethoven-Hauses gesichert werden konnte. Obwohl von Beethoven sehr viele Dokumente überliefert sind – allerdings gibt es auch schmerzhafte Lücken vor allem in den ersten drei Lebensjahrzehnten –, so sind diese Notizblätter doch eine Rarität. Sie erlauben uns einen Einblick in Beethovens Alltag, es mischen sich Eintragungen zu seinen Aktivitäten als Künstler mit solchen zu banalen Verrichtungen und Sorgen. Außerdem verrät der Schriftduktus Beethovens innere Ver­fasstheit.

Die Notizen machte sich Beethoven ein Jahr vor seinem Tod, im März /April 1826. Er arbeitete damals an seinem Streichquartett cis-Moll op. 131, dessen Stichvorlage (eine vom Komponisten korrigierte Kopistenabschrift) er im August dem Verlag Schott in Mainz übermittelte und die sich heute ebenfalls in der Sammlung des Beethoven-Hauses befindet. Die Notizen sind auffallend sorgfältig und systematisch notiert. Allerdings finden sich auch hier – wie in vielen seiner Musikhandschriften – einige Korrekturen. Wenn Beethoven eine Angelegenheit als erledigt ansah, strich er den Eintrag durch. Angesichts der Tatsache, dass er die Notizen als Erinnerungsstütze für sich selbst anfertigte, überrascht die Großräumigkeit und Sorgfalt der Notation. Gelegentliche eigenhändige Eintragungen in den sogenannten Konversationsheften oder anderen Dokumenten mit ähnlicher Zielsetzung haben ein gänzlich anderes Erscheinungsbild.

Will man die Notizen besser ver­stehen, so ist ein Blick in das parallel benutzte Konversationsheft hilfreich, das die Gesprächspartner des tauben Beet­hoven und gelegentlich auch er selbst zur Verständigung mit seiner Umwelt benutzte. Da ist viel von Problemen und Fluktuation beim Hauspersonal die Rede. Ein Grund war Beethovens (wohl nicht immer berechtigtes) tiefes Misstrauen gegenüber dem Personal, was sich etwa in den wiederholten Notizen zur Zahl der herausgegebenen Kerzen niederschlug. So warf er der scheidenden Haushälterin Lindner vor, sie habe einen Löffel mitgehen lassen (oder gegen einen anderen ausgetauscht) und wollte des­wegen einen Teil des noch ausstehenden Lohns einbehalten. Die Haushälterinnen mussten täglich eine Abrechnung über ihre Einkäufe vorlegen.

Da sich etliche erhalten haben, wissen wir, dass Beethoven sie tatsächlich minutiös kontrollierte. Umgekehrt beklagte sich die Haushäl­terin, nicht genug Geld für die Einkäufe zu erhalten und ließ deswegen anschreiben, was sich im Laufe der Zeit zu einem erklecklichen Betrag summierte und zu einer bösen Überraschung wurde. Wie pingelig Beethoven diesbezüglich war, zeigt sich pars pro toto daran, dass sein Neffe ihm erläuterte, die alte Köchin habe beim Spinat die Stengel mitgekocht, während die neue sie wegschneide und daher mehr Spinat kaufen müsse. Nach all dem wundert es nicht, dass Beethoven sich nun notierte, dass er beide neuen Dienstboten (Haushälterin und Dienstmagd/Küchenmädchen) am 23. März, dem Gründonnerstag, mit 14-tägiger Kündigungszeit entlassen habe. Die nächste Eintragung betrifft deren Entlohnung. Die Haushälterin namens Bruckl war erst am 12. März eingetreten, fünf Tage später stieß ihre Schwester hinzu. Erstere dürfte einen Unfall gehabt haben, jedenfalls krank geworden sein, denn sie ging am 4. oder 5. April ins Krankenhaus. Selbst den Namen der behandelnden Ärzte kennen wir. Sie hatte offenbar Fieber, was wohl zunächst u. a. mit einer Maß Bier der Marke „Kaiserbier“ zu senken versucht wurde. Beethovens Bruder Johann, von Beruf Apotheker, gab ihm den Rat, Personal erst dann zu entlassen, wenn es wieder gesund sei, weil Beethoven sonst für alle Behandlungskosten aufkommen müsse. Da sie in einigen Tagen wieder genesen sei, solle er ihr erst dann ein Zeugnis ausstellen und drauf vermerken, „dass Sie gesund von dir entlaßen worden ist“. Tatsächlich quittierten beide ihren Dienst am 6. April und wollten keinesfalls länger bleiben, obwohl noch keine Nachfolgerinnen gefunden waren. Da die Haushälterin, die sich vorstellte, erst ihre bisherige Stelle kündigen musste, hatte Beethoven eine Woche ohne Personal auszukommen. Sein hilfsbereiter Freund, der Geiger Karl Holz, der das bisherige Haushaltspersonal als „Bagage“ bezeichnete, kam eigens vorbei, um es Beethoven zu ersparen, die beiden selbst auszahlen zu müssen. Er riet ihm, in dieser Zeit zum Speisen ins Wirtshaus zu gehen. Als neue Wirtschafterin wird eine in Armut gestürzte Frau in Aussicht genommen, die eine der besten Köchinnen von Wien und mit dem sehr vermögenden, mit Beethoven befreundeten Tuchhändler Johann Nepomuk Wolfmayer verwandt sei. Dieser hatte Beethoven 1818 für den Fall, dass er ein Requiem komponiere und ihm nach Fertigstellung eine Abschrift der Partitur zukommen lasse, den stolzen Betrag von 100 Dukaten zugesagt. Beethoven macht sich dennoch nie an die Arbeit. Es blieb bei einer kurzen Skizze. Kurz vor seinem Tod benannte Beethoven Wolfmayer als Widmungs­träger seines letzten Streichquartettes F-Dur op. 135. Holz fasste die Grundkonstellation nicht ohne Ironie am 30. März gegenüber Beethoven so zusammen: „Beethoven kommt mir vor, wie ein Adler, der zum Himmel fliegt. An den Füssen (nicht an den Flügeln) hat er aber eine Schnur, die zur Erde reicht. Diese wird von – einer Haus­hälterin festgehalten. Oft reißt er sich plötzlich los, und fliegt schnell in seinen Himmel hinauf; wenn er aber des irdischen Lebens gedenkt, will er sich auf kurze Zeit herablassen, er läßt die Schnur fallen, und sieh – die Haushälterin hat ihn schon wieder.“

Transkription S. 38:
16 kr:[euzer] pr: Tag Monathl[ich] 8 fl: Kommt hiezu, daß jährl[ich] 100 fl: gerechnet werden, so werden noch 20 Kr[euzer] drauf bezahlt.  
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am Mittwoch den 5ten Aprill das Unglück. 
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den 22ten April Schlesingers Brief erhalt.[en], u. auch selben beantwortet 
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Transkription S. 39:
× am < 9 >12ten März 6 Kerz[en] gegeb.[en] 
× am 11ten nach Petersburg an galizin 
× am 12ten März die neue Haußhält.[erin] eingetret.[en]  
× 6 Krüge Selterwasser < im Keller. – > 
< vom > bis 1ten März ein Monath / dann noch 16 Täge 

Der auf der vierten Seite erwähnte Kopist Wenzel Rampl erhielt wohl am 1. April zehn Gulden für die Kopiatur der 9. Sinfonie, die erst fünf Monate später in gedruckter Form vorlag. Die von Rampl erstellte Abschrift diente als Widmungsabschrift für den preußischen König Friedrich Wilhelm III. Sie befindet sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

Die zweimalige Erwähnung von Fürst Nikolaus Galitzin rührt von dem im November 1822 geäußerten Wunsch des musikbegeisterten Cellisten und Beethoven-Verehrers her, dieser möge für ihn ein, zwei oder drei Streichquartette komponieren und ihm schon vor der Drucklegung zur Verfügung stellen – die späteren opp. 127, 132 und 130. Am 11. März war wohl die Abschrift des Streichquartetts B-Dur op. 130 (mit der Großen Fuge als Schlusssatz) fertig. Sie wurde am 16. März mit einem Begleitschreiben, das nicht erhalten ist, per Kurier (er hieß Augustin Lipscher) nach St. Petersburg geschickt. Sicherlich bat Beethoven auch um die Auszahlung des Honorars, das aufgrund der kriegerischen Zeitläufte und finanziellen Engpässe beim Fürsten erst ein Vierteljahrhundert später ausgezahlt wurde. Die für Galitzin erstellte Abschrift auf ganz kleinformatigem Briefpapier (ursprünglich der Portoersparnis wegen!) befindet sich seit 1889, dem Gründungsjahr des Vereins Beethoven-Haus, als Geschenk von Joseph Joachim in der Bonner Sammlung. Joachim war damals die graue Eminenz des deutschen Musik­lebens und Ehrenpräsident des Vereins.

Die Notizen befanden sich in Beethovens Nachlass und wurden bei dessen Versteigerung vom Verleger Domenico Artaria erworben. Nach dem Tod von dessen Sohn August Artaria († 1893) lieferten wohl dessen Söhne die Blätter beim Wiener Antiquariat und Auktionshaus Gilhofer & Ranschburg ein, wo sie in der Auktion vom 21. – 23. Februar 1898 angeboten wurden. Eine Generation später tauchten sie neuerlich bei einer Auktion auf, diesmal am 14. Mai 1925 auf der Auktion 104 von Henrici in Berlin. Zuletzt befand sich das Manuskript in schweizerischem Privatbesitz. Nun hat es im Bonner Beethoven-Haus seinen endgültigen Aufbewahrungsort gefunden.

Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Beauftragte der Bundes­regierung für Kultur und Medien, Gielen-Leyendecker-Stiftung